2. Ausgrenzungen im 19. und 20. Jahrhundert bis 1918
Der Nationalstaat als Polizeistaat
Die „Zigeuner”, die nur im späten Mittelalter Sonderrechte als Gruppe gehabt hatten, erhielten im Zuge der Emanzipationsbewegung des 18. und 19. Jahrhundert als Individuen bürgerliche Rechte. Damit waren zunächst die „Zigeuner” als reale oder als imaginierte Gruppe für die meisten Obrigkeiten kein Thema mehr. Die Zahl der Zigeuneredikte nahm deshalb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab.
Aufkommen des Nationalismus und seine Folgen
Erst mit dem Reichsbürgergesetz aus dem Jahre 1913 setzte sich das ius sanguinis durch. Für Sinti und Roma galt grundsätzlich zunächst der Geburtsort als Heimatort, oder Sinti und Roma, die in deutschen Ländern geboren waren, hatten die Staatsangehörigkeit des deutschen Landes. Mit der stärkeren Verbreitung des Herkunftsprinzips ("Blutsprinzip") waren Juden, Polen und Sinti und Roma bedroht, ihre deutsche Staatsangehörigkeit zu verlieren, wenn sie ihren Geburtsort in Deutschland nicht nachweisen konnten.
Um aber die Zahl der sogenannten „Zigeuner” verkleinern zu können, begannen die Behörden sehr früh mit der Unterscheidung zwischen inländischen und ausländischen „Zigeunern“. „Inländische Zigeuner” wurden innerhalb Deutschlands in ihr jeweiliges Heimatland verschoben, von Preußen nach Hessen, von Württemberg nach Bayern und so weiter, „ausländische Zigeuner” sollten nicht ins Land gelassen werden oder ins Ausland wieder abgeschoben werden. Gegen die eingewanderten Roma wurden überall Rundschreiben formuliert, keine Gesetze, so dass diese Frage als Verwaltungsangelegenheit gesehen wurde.
Ausgrenzung durch Polizeiverordnungen zur Vertreibung der Sinti und Roma
Im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden „Fremde“, so auch die Sinti und Roma, nicht zu den meisten Handwerken zugelassen. Die Zünfte und Innungen verhinderten ihnen den Zugang. Nach Auflösung der Zünfte im 18. Jahrhundert und nach Einführung der Gewerbefreiheit nutzten Sinti und Roma im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zum Teil - auch aus der Not geboren - gesellschaftliche und ökonomische Nischen, um als Pferdehändler, Händler ganz allgemein, Handwerker, Zirkusleute und Schausteller, als Musiker, auch als Geigenbauer, um nur einige Berufszweige zu nennen, zu arbeiten. Viele dieser Gewerbe wurden hauptsächlich ambulant betrieben, und zwar vom Frühjahr bis zum Herbst. In den Wintermonaten wurden in der Regel entweder feste Stellplätze für Wohnwagen aufgesucht oder die Sinti und Roma wohnten in gemieteten oder gekauften Häusern. Neben den ehemals traditionellen Berufen sind vermehrt auch Sinti und Roma in abhängigen Beschäftigungsverhältnissen, zum Beispiel als Fabrikarbeiter, nachweisbar.
- Nichtdeutsche Sinti und Roma durften dem ambulanten Handel nicht nachgehen, und gegen die deutschen Sinti und Roma wurden verschiedene polizeiliche Maßnahmen eingeleitet, die als Schikanen anzusehen sind.
- Das Reisen und Rasten „in Horden" ( Gruppe mit mehr als zwei nichtverwandten Personen) war ihnen untersagt.
- Die Erteilung eines Wandergewerbescheines wurde vielfach mit schikanösen Auflagen verbunden.
In Bayern wurde 1899 ein Zigeunernachrichtendienst eingerichtet. Dies hatte Vorbildfunktion in anderen Ländern des Reiches. - Die Erfassung der Sinti und Roma durch die Münchener Nachrichtenstelle war für die weitere Verfolgungsgeschichte wesentlich.
Wenige Monate nach der Veröffentlichung des sogenannten „Zigeunerbuches” der Münchener Kriminalpolizei mit einer Auflistung von etwa 3500 "Zigeunern", zum Teil mit Bild, erließ der Minister des Innern des Staates Preußen und spätere Reichskanzler Th. v. Bethmann-Hollweg am 17. Februar 1906 die „Anweisung zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens“, in der Regelungen für eine flächendeckende Erfassung von Sinti und Roma formuliert wurden. (Dokument 16).
Auf kommunaler Ebene wurden entsprechende Polizeiverordnungen veröffentlicht, die die Sinti und Roma nachhaltig diskriminierten. Ein Hauptaugenmerk wurde auch hier auf das sogenannte "Reisen in Horden" gelegt. Dem Ermessen der Gendarmen oblag es, zwei oder drei Einzelreisende, die nicht nahe verwandt waren, als „Horde” anzusehen. Aus jeder Gruppe von Sinti und Roma oder jeder größeren Familie, die im ambulanten Gewerbe tätig war, wurde sehr schnell eine „Zigeunerbande”, womit diesen von vornherein kriminelle Absichten unterstellt wurde. Nachgeordnete Behörden, vor allem die Bürgermeistereien, wurden immer wieder darauf hingewiesen, gerade diese Bestimmungen des Reisens in Horden zu kontrollieren. Ein Ziel dieser Gesetze und Verordnungen war es, den ambulanten Handel einzuschränken, wozu es wiederum der Überwachung - noch mehr Polizei - bedurfte.
Von den Polizei- und Ordnungsbehörden wurde diese Anweisung bis 1936, zum Teil bis 1938, immer wieder herangezogen, um „Zigeuner” bzw. Sinti und Roma zu verfolgen.
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