15. 1.5. Die Utopie vom Universalen Frieden: der Londoner Vertrag 1518/19
Mit dem Vertrag von London (Dokument X) versuchten im Jahre 1518 die größten und mächtigsten Staaten des damaligen Europa, darunter das Heilige Römische Reich zusammen mit Spanien, darüber hinaus Frankreich und Burgund, der Kirchenstaat des Papstes, aber auch die Niederlande und England, „ein gutes, ehrliches, wahres, unverletzliches, vollkommenes, frommes und festes Freundschaftsbündnis, eine Union, eine Liga, ein Übereinkommen, ein Bündnis“ zu begründen. Der Vertrag von London, maßgeblich gestaltet durch den englischen Diplomaten und Kardinal Thomas Wolsey (1475-1530), stellt den ersten konkreten Versuch da, allein mit diplomatischen Mitteln einen anhaltenden Frieden in Europa zu gewährleisten, „Friede auf Erden, auf dem Meere und den Binnengewässern, an den Häfen des Meeres und an allen Orten", der auch "in künftigen Zeiten unablässig halten" sollte.
Die Bemühungen um ein solches Bündnis hatten im Jahre 1518 einen aktuellen machtpolitischen Hintergrund. Das Osmanischen Reich hatte seinen Machtbereich in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter ausgedehnt: Erst im Jahre 1453 hatten die Osmanen die Stadt Konstantinopel erobert und damit das Byzantinische Reich endgültig zerschlagen. Neben dem eigentlichen Kernland in der heutigen Türkei herrschten die Osmanen nun auch über Griechenland und den Balkan und bedrohte das angrenzende christliche Ungarn. Bis 1520 sollte das Osmanische Reich sogar weite Teile des Nahen Ostens, Persiens und Nordafrikas unterworfen haben. Angesichts dieser militärischen Macht wuchs die Angst, die osmanischen Türken könnten auch noch weiter nach Europa vordringen, was in den folgenden Jahren auch geschah. Die Osmanen unterwarfen Ungarn und belagerten 1529 sogar die Stadt Wien.
Die Bedrohung durch den "türkischen Tyrannen" , wie es im Vertrag heißt, dient dem Bündnis jedoch lediglich als Ausgangspunkt, wohingegen der zweiten erklärten Absicht des Vertrages der meiste Platz eingeräumt wird: der Etablierung eines europäischen "Universalfriedens".
Diese Idee war nicht unbedingt neu, wurde aber von den eifrig schreibenden Humanisten jener Epoche erneut stark verbreitet. Bereits mit den Kreuzzügen, die am Ende des 11. Jahrhunderts begannen, strebte man nach der Herstellung eines "Gottesfriedens" innerhalb Europas und nach der Einheit der Christenheit, was im Ideal des pax Romana - des Friedens innerhalb römisch-katholischen Kirche, seinen Ausdruck fand. Die wiederholten Kriege zwischen den entstehenden Nationalstaaten in den Jahren vor 1518 führten dann dazu, dass die Vertreter des Humanismus stärker denn je die Forderung nach einem solchen Gottesfrieden verbreiteten. Einer der bekanntesten war Erasmus von Rotterdam, der in seiner Schrift Querela Pacis (1517) die Herrscher Europas zum Frieden aufrief.
An Euch appelliere ich, Ihr Herrscher, […] besinnt Euch auf den Ruf Eures Königs zum Frieden, weswegen Euch die ganze Welt, durch langes Unheil erschöpft, darum anfleht. [...]
Vom größten Teil des Volkes wird der Krieg verflucht, man betet um Frieden. Einige wenige nur, deren gottloses Glück vom allgemeinen Unglück abhängt, wünschen den Krieg. […] Ihr seht, bis jetzt ist nichts durch Bündnisse zustande gebracht, nichts durch Verschwägerung gefördert, nichts durch Gewalt, nichts durch Rachenahme. Stellt nun dagegen auf die Probe, was Versöhnlichkeit und Wohltätigkeit vermögen. Krieg wird aus Krieg gesät, Rache verursacht wieder Rache [...]
Für die Fürsten wird es eine ehrwürdige Herrschaft sein, wenn sie über fromme und glückliche Menschen gebieten, sobald sie mehr durch Gesetze als durch Waffen regieren, die Aristokraten werden ein größeres und rechtmäßiges Ansehen genießen, die Priester mehr stille Mußezeit, dem Volk wird eine gedeihlichere Ruhe zuteil und Überfluss in Frieden: Der christliche Name wird den Feinden des Kreuzes mehr Ehrfurcht einflößen. Endlich wird der Einzelne dem Einzelnen und alle werden allen zugleich lieb und wert sein und vor allem Christus willkommen sein, dem zu gefallen das höchste Glück ist.
Erasmus von Rotterdam, Die Klage des Friedens
in der Übersetzung von Brigitte Hannemann, Zürich 1998.
Auch der englische Humanist Thomas Morus beschäftigt sich in seinem auch heute noch äußerst bekannten Roman Utopia (156) mit der seinerzeit so wichtigen Frage nach der Ethik des Krieges und schreibt über die Bewohner des fiktiven Staates Utopia:
Den Krieg verabscheuen die Utopier als etwas ganz Bestialisches mehr als alles andere, und doch gibt sich mit ihm keine Art von Bestien so dauernd ab wie der Mensch. Der Anschauung fast aller Völker zuwider halten die Utopier nichts für so unrühmlich wie den Ruhm, den man im Kriege gewinnt.
Thomas Morus, Utopia. URL: http://gutenberg.spiegel.de/buch/1321/1.
Vor diesem Hintergrund werden die Bemühungen um einen europäischen Frieden verständlich, die im Londoner Vertrag ihren vorläufigen Höhepunkt finden.
Der Vertrag beinhaltet zunächst die Absichtserklärung der unterzeichnenden Herrscher, ein jedes andere Bündnismitglied "gegen Eroberer, Zerstörer und alle feindlichen Angreifer" zu verteidigen, „sich gegenseitig beizustehen“ und damit den Frieden jederzeit zu gewährleisten.
Dabei schließt man sich aber nicht nur gegen Bedrohungen "von außen", wie etwa das Osmanische Reich, zusammen, sondern auch gegen Bedrohungen "von innen". An mehreren Stellen wird explizit ausgeführt, dass die Pflicht zur Verteidigung eines angegriffenen Bündnismitgliedes auch dann gilt, wenn der Angreifen selbst Mitglied des Bündnisses sein sollte. Hier zeigt sich deutlich Absicht, den Frieden nicht nur gegen äußere Feinde zu wahren, sondern auch innerhalb der europäischen christlichen Staaten einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten.
Dabei wird genau festgelegt, was als ein Angriff zu werten ist und wie die Bündnismitglieder in einem solche "Verteidigungsfall" zu handeln haben: Zunächst müsse das angegriffene Mitglied alle anderen Mitglieder über seine Bedrohung in Kenntnis setzen und um Beistand ersuchen. Die anderen Mitglieder des Bündnisses sollen dann zunächst gemeinschaftlich eine Warnung an den Aggressor abgeben, ihn „mahnen und bitten“, um ihn womöglich von seinem Vorhaben abzubringen - dieses Vorgehen ähnelt etwa der gemeinsamen Verabschiedung einer modernen UN-Resolution. Erst, wenn im Rahmen einer ein- bis zweimonatigen Zeit der Angreifer seine Angriffe nicht einstellt, sind alle anderen Bündnismitglieder verpflichtet, den Angreifer zu ihrem gemeinsamen Feind zu erklären und dem angegriffenen Bündnispartner mit allen militärisch notwendigen Mitteln zu Lande und zu Wasser zur Hilfe eilen. Die Bündnismitglieder sicherten sich für diesen Fall gegenseitig „freuen Durchgang, Zugang und Rückzug“ durch ihre jeweiligen Territorien ohne „Betrug, List, Hinderung oder Widerstand“ zu.
Allerdings wurde militärische Hilfe explizit dann ausgeschlossen, wenn es sich bei den Aggressoren um Rebellen im eigenen Land handelte: Der "Verteidigungsfall" konnte also nur eintreten, wenn einem Bündnispartner eine Gefahr "von außen" drohte. Sollte jedoch eine Rebellion durch den Einfluss eines Dritten „angespornt, ermutigt, verleitet, überredet, darin unterstützt oder begünstigt worden sein“, so würden die Bündnispartner einander dennoch zur Hilfe kommen und den Verursacher und "Anstifter" dieser Rebellion zur Rechenschaft ziehen. In diesem Zusammenhang ist auch ein weiteres Abkommen auffällig: Sollten sich im Gebiet eines Bündnismitglieds „irgendwelche Rebellen und Verräter, der Majestätsbeleidigung Verdächtigte, Flüchtlinge oder Untergebene irgendeines der genannten Verbündeten“ aufhalten, die von einem anderen Bündnispartner aufgrund von Rebellion oder anderen Straftaten gesucht werden, so müssten diese an die Strafverfolgung des Bündnismitgliedes ausgeliefert werden.
Der Vertrag von London versuchte also bereits 1518 ein System zu etablieren, dass gemeinschaftlich einen europäischen "Universalfrieden" gewährleisten und jegliche Gefährdung dieses Friedens durch einen mehrstufigen "Reaktionsmechanismus" ahnden sollte. Dabei wurde bereits sehr genau zwischen "inneren" und "äußeren" Angelegenheiten der entstehenden Nationalstaaten unterschieden. Die "Mitgliedschaft" in diesem Verteidigungsbündnis war zusätzlich nicht exklusiv auf die Unterzeichner des Londoner Vertrages beschränkt: Jeder (christliche) Staat sollte die Möglichkeit haben, dem Bündnis ebenfalls beizutreten.
Auch wenn das Bündnis vor dem Hintergrund zahlreicher innerer Konflikte und äußerer Bedrohungen vielversprechend scheint und durchaus an moderne Staatenbündnisse erinnert, konnte es doch nur für etwa zweieinhalb Jahre den Frieden innerhalb Europas tatsächlich gewährleisten: Die Rivalität um die europäische Vorherrschaft zwischen dem französischen König Franz I. und dem deutschen Kaiser Karl V., der gleichzeitig König von Spanien war, führte schon bald zu einem erbitterten Krieg zwischen dem deutsch-spanischen Haus Habsburg und dem französischen Haus Valois, als der französische König zwischen 1520 und 1521 Luxemburg und Navarra angriff.
Da es mit Kardinal Wolsey nur einen Verwalter des Vertrages und keine weiteren Notare oder Anwälte gab, welche die Einhaltung des Vertrages überwachten, musste sich der deutsche Kaiser Karl V. an den englischen Hof wenden, um die französischen Feindseligkeiten anzuklagen. Der englische König Heinrich VIII. hatte zwar beabsichtigt, die Einhaltung des Friedens gegen jeden Aggressor zu gewährleisten und forderte daher vertragsgemäß den französischen König auf, seine Angriffe einzustellen: Doch besaß der englische König zu diesem Zeitpunkt nicht die militärischen Mittel, um in diesem Krieg im Sinne seiner vertraglichen Pflichten intervenieren zu können und den Frieden wiederherzustellen. Der Vertrag von London wurde in jenem Moment wirkungslos, als es niemanden mehr gab, der seine Bestimmungen effektiv durchsetzen konnte oder wollte.
Weiterführende Literatur
- Kampmann, Christoph: Ius Gentium and a Peace Order: the Treaty of London (1518) and Continuity in the International Law of the Modern Times. In: Universality and Continuity in International Law. Hrsg. v. Thilo Marauhn [u.a.]. Den Haag 2011, S. 393–406.
- Mattingly, Garrett: An Early Non-Aggression Pact. In: The Journal of Modern History, Bd. X (1938), H. 1, S. 2–30.
Marcus Meer
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