55. 5.5. Heinrich VIII. England und Schottland (u.a. Patrick Hamilton)
Einleitung zur Reformation in England und Schottland
Die Reformation in England ist gekennzeichnet durch eine Vielzahl von sich oft widerstrebenden Etappen und Interessengruppen. Schon im 14. Jahrhundert hatte der Theologe John Wyclif massive Kritik an Kirche und Papst geäußert und tiefgreifende Reformen verlangt, die den Forderungen der gesamteuropäischen Reformationsbewegung im 16. Jahrhundert ähnelten und auf bemerkenswerte Art und Weise vorausgriffen. Die Lollarden versuchten die Lehren Wyclifs auf den Britischen Inseln umzusetzen und besaßen, trotz staatlicher und kirchlicher Verfolgung, enormen Rückhalt in der Bevölkerung. Über Hus und Erasmus von Rotterdam verbreitete sich wyclifitisches Gedankengut auf dem Kontinent. Im Umkehrschluss gelangten Ideen bedeutender Denker durch das immerwährende Wechselspiel intellektuellen Austausches im Europa des Reformationszeitalters wiederum nach England und Schottland. Zunächst war Martin Luther der entscheidende Einfluss ab den 1520er Jahren, bis der Calvinismus ab Mitte des 16. Jh. seinen Siegeszug antrat.1
Spätestens seit dem Konzil von Konstanz (1414-18) hatte ein langsamer Prozess der Loslösung von Rom begonnen2, der allerdings aus politischen, nicht theologischen, Gründen endgültig vollzogen werden sollte. Allerdings gab es in England gewisse Strömungen, besonders in den Universitäten Oxford und Cambridge, welche humanistische und protestantische Ideen und Schriften, teils unter Lebensgefahr, verbreiteten. Besonders traten hier die beiden englischen Theologen William Tyndale, der die Bibel ins Frühneuenglische übersetzte, und Robert Barnes hervor, die die Lehren Luthers verbreiteten. Im Gegensatz zu den Entwicklungen im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, die zu einem gewichtigen Teile durch ein „vehementes religiöses Moment als Antriebskraft“2, bei allem natürlichen Selbstinteresse, bedingt waren, setzten persönliche Motive des englischen Königs die Reformation in Gang. Da seine Ehefrau, Katharina von Aragon, ihm keinen Sohn gebar und eine geeignete Nachfolgerin in Anne Boleyn bereitstand, versuchte Heinrich VIII. eine Annullierung der Ehe, die erst durch den Papst möglich gemacht wurde, weil es sich um die Ehefrau von Heinrichs verstorbenem Bruder gehandelt hatte, zu erwirken. Der Lordkanzler und Kardinal Thomas Wolsey, der mächtigste Mann im Staat nach dem König, wurde damit beauftragt, den Papst und die europäischen Monarchen von der Rechtmäßigkeit dieses Vorhabens zu überzeugen, jedoch ohne Erfolg. Als Folge wurde er 1529 entlassen, des Hochverrats angeklagt und starb 1530 kurz vor dem Prozess3. Sein Nachfolger wurde der papsttreue Thomas Morus, ein Indiz dafür, dass zu diesem Zeitpunkt „die Lösung von Rom […] noch keineswegs beschlossene Sache“ war2. Die Universitäten Europas waren zudem 1530 aufgerufen worden, ihre Meinung über die Scheidung Heinrichs kundzutun, um Heinrich eine theologische Rechtfertigung zu liefern, wenngleich diese zum Leidwesen der englischen Krone ausblieb3. Martin Luther empfiehl, statt einer Scheidung, sich eine zweite Ehefrau zu nehmen.
Nun begann sich ein Paradigmenwechsel zu vollziehen, als klar wurde, dass der Papst seine Zustimmung verwehren würde. Reformatorisch gesinnte Kreise um Anne Boleyn und dem Theologen Thomas Cranmer aus Cambridge, lange Brutstätte und Verteiler lutherischen Gedankengutes, bewogen den König zum Umdenken und im Parlament wurden schon 1529 Gesetze zur Kirchenreform verabschiedet3. Besonders Cranmers These, 1530 dem König vorgetragen, dass der englische König nur Gott verantwortlich3 und der Papst „gegen den Willen Gottes“2 das Oberhaupt der Kirche sei, fand jetzt bei Heinrich VIII. großen Anklang. Nur wenige Jahre zuvor hatte er noch, durch Wolsey, reformatorische Schriften verboten2 und deren Leser und Verfechter als Ketzer verbrennen lassen. Er hatte sogar 1521 eine eigene Streitschrift verfasst, Assertio Septem Sacramentorum, die gegen Luthers Kritik in De captivitate Babylonica gerichtet war und ihm die päpstliche Ehrung des „defensor fidei“ eingebracht hatte2. Nun aber verbündete er sich zeitweilig mit den reformbedachten Kräften im Lande, um seine eigenen Interessen durchzusetzen.
Von 1530 bis 1534 wurden systematisch alle Verbindungen zum Papst getrennt und die Kirche der englischen Krone unterworfen, mit oft rücksichtlosen Mitteln. 1530 wurden 15 ranghohe Kirchenmänner auf die Anklagebank gesetzt, um die Zustimmung der Geistlichen für die Reformen zu erpressen. Nicht nur musste der Klerus anerkennen, dass König Heinrich VIII. das Oberhaupt der Kirche war, sondern auch beträchtliche Gelder zahlen, um das Leben der Angeklagten zu retten3. 1532 wurden Gesetze erlassen, die den Geldfluss nach Rom, die Berufung von Kirchenmännern durch den Papst und eigenmächtige kirchenrechtliche Gesetzesentwürfe des Klerus stoppten3. Es folgten 1533 die Beschneidung des Appellationsrechtes an Rom3, Besteuerung des Klerus3, ein obligatorischer Anerkennungsschwur auf die Rechtmäßigkeit der zweiten Ehe von Heinrich VIII.3 und 1534 die Suprematsakte, die den englischen König nun auch rechtlich zum Oberhaupt der Kirche machte3. Ab 1536 wurden die Mönchsorden aufgelöst und enteignet, mit einem gigantischen finanziellen Gewinn für Krone und Adel3. Lordkanzler Thomas Morus und Kardinal John Fisher weigerten sich, die Neuerungen anzuerkennen und wurden 1535 hingerichtet3. Volksaufstände im Norden Englands, zum Teile religiös motiviert und gegen die Neuerungen gerichtet, wurden niedergeschlagen3.
Neben der Loslösung von Rom, welches das Hauptanliegen Heinrichs war, wurden eine Vielzahl von Kirchenreformen durchgesetzt, besonders vorangetrieben durch Thomas Cromwell und Thomas Cranmer. Die Ten Articles von 1536 waren die erste Richtlinien für die anglikanische Kirche und bezeugen eine vorsichtige Annäherung an das Luthertum3, wenngleich sie nicht gänzlich mit katholischen Doktrinen bricht. Eine Reihe von Bibelübersetzungen ins frühneuzeitliche Englisch wurden fertiggestellt, um dem Volk den Zugang zum Wort Gottes zu ermöglichen3. Zur selben Zeit verhandelte England über die Aufnahme in den Schmalkaldischen Bund, da England dringend Verbündete auf dem Kontinent benötigte. Allerdings gestalteten sich die Verhandlungen schwierig und scheiterten letztendlich an theologischen Fragen, da Heinrich VIII. nicht gewillt war, die anglikanische Kirche lutheranisch werden zu lassen.
Als Reaktion auf das Scheitern der Verhandlungen und die persönliche Abneigung gegenüber der Verbreitung lutherischer Ideen in England, ließ Heinrich VIII. die Six Articles durch das Parlament ratifizieren, welche eine deutliche Rückkehr zu katholischen Prinzipien, Transsubstantiationslehre, Zölibat, der Messe, Ohrenbeichte, und eine erneute Verfolgung von Protestanten bedeutete3. Die Trennung von Rom blieb allerdings bestehen. Thomas Cromwell, lange Zeit ein Verfechter der Annäherung an die Lutheraner in Deutschland und des Schmalkaldischen Bundes, fiel in Ungnade und wurde 1540 hingerichtet3. Bis zum Tode Heinrichs im Januar 1547 wurden protestantische Lehren unterdrückt und eine Beisetzung der theologischen Differenzen durch den König verlangt.
Sein Nachfolger, König Eduard VI., war der „erste protestantische Monarch“4 Englands. Er hob alle Gesetze, inklusive der Six Articles, die sich gegen protestantische Häresien richteten, auf und leitete eine grundlegende Kirchenreform ein. Mittlerweile war allerdings der Einfluss lutherischer Ideen der calvinistischen Lehre gewichen, unter anderem auch durch Johannes Calvins direkten Kontakt, über den Duke of Somerset, Lordprotektor, zum minderjährigen Monarchen. Eduard ließ weiteres Kirchengut enteignen und Thomas Cranmer revolutionierte den anglikanischen Gottesdienst durch das englischsprachige Book of Common Prayer, dessen zweite, protestantischere Ausführung bis heute mit einigen wenigen Änderungen Bestand hat. Mit den calvinistischen Forty-Two Articles of Religion versuchte Eduard im Juni 1553, die protestantische Erneuerung in der anglikanischen Kirche rechtlich zu sichern, doch verstarb er einen Monat später, bevor die neuen Gesetze hätten greifen können.5
Maria I., eine überzeugte Katholikin, wurde nun Königin von England. Sie setzte alle Reformen Eduards außer Kraft, führte die Ketzergesetzgebung wieder ein und machte den katholischen Glauben zur Pflicht. Thomas Cranmer wurde festgenommen und 1556 hingerichtet. Die Suprematsakte von 1534 wurde für nichtig erklärt und der Papst wieder Oberhaupt der englischen Kirche. Die Wiederherstellung der Kirchengüter scheiterte allerdings am Widerstand des Parlaments, dessen adlige Abgeordnete die Nutznießer der früheren Enteignungen gewesen waren. Über 280 Menschen wurden im Zuge der Rekatholisierung hingerichtet, wodurch Maria den Beinamen „Bloody Mary“ erhielt. Neben den religiösen Umwälzungen führte Marias Nähe zu Spanien, durch ihre Heirat mit Philipp von Spanien zementiert, zu weitverbreiteter Unzufriedenheit innerhalb der Bevölkerung und Volksaufständen in Wales, Devonshire, den Midlands und Kent, die allesamt blutig niedergeschlagen wurden.10
Nach Marias Tod konnte sich der Katholizismus nicht durchsetzen, weder gesellschaftlich noch dynastisch. Königin Elisabeth I. führte England zurück zum Protestantismus, die Ketzergesetze wurden abgeschafft, katholische Kirchenamtsträger entlassen und deren öffentliche Predigten verhindert, sowie die Suprematsakte, und damit die erneute Loslösung von Rom, 1559 bestätigt. Als Reaktion wurde Elisabeth I. im Jahre 1570 durch den Papst exkommuniziert. Eine Vielzahl von Eduards protestantischen Reformen wurden übernommen, darunter das Book of Common Prayer, welche in der Uniformitätsakte von 1559 offiziellen Status erhielt. Seine Forty-Two Articles of Religion fanden, leicht bearbeitet, Eingang in die 39 Artikel von 1571.6
In Schottland dominierten, ähnlich wie in England, ab Anfang der 1520er Jahre die Lehren Luthers die reformatorische Bewegung. Schottische Händler und Studenten sorgten für die Verbreitung der Schriften Luthers innerhalb Schottlands. Patrick Hamilton, Student und Theologe in St. Andrews und Marburg, war durch sein Wirken und das posthum gedruckte Patrick’s Places der wichtigste „Multiplikator des von Luther ausgehenden reformatorischen Gedankenguts“7 in Schottland und stand in Kontakt mit den beiden größten englischen Lutheranern, Robert Barnes und William Tyndale. Hamilton wurde 1528 als Ketzer auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In den 1540er Jahren gewann der Calvinismus an entscheidender Bedeutung und läutete ab 1558 politische Umwälzungen ein, die zur Reform der Kirche und der Confessio Scotica 1560 durch das Parlament führten. Ab 1567 war Schottland ein offiziell protestantischer Staat.8
Autor: Alexander Debney
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1Vgl. Borinski, Ludwig. „Wyclif, Erasmus und Luther“. 1988. In: „Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg“. Heft 2. Göttingen: Vandenboeck & Ruprecht, 1990, S. 1-46
2Leppin, Volker. „Das Zeitalter der Reformationen“. Darmstadt: WBG, 2009, S. 130-135
3Vgl. Jones, Tudur. „The Great Reformation“. Leicester: Inter-Varsity Press, 1985, S. 117-122
4Jones, Tudur. „The Great Reformation“. Leicester: Inter-Varsity Press, 1985, S. 157.
5Vgl. Jones, Tudur. „The Great Reformation“. Leicester: Inter-Varsity Press, 1985, S. 157- 161.
6Vgl. Jones, Tudur. „The Great Reformation“. Leicester: Inter-Varsity Press, 1985, S. 162- 168.
7Vgl. Dingel, Irene. „Luther und Europa“ in: Beutel, Albrecht. „Luther Handbuch“. Tübingen: Mohr Siebeck, 2005, S.214f.
8Vgl. Jones, Tudur. „The Great Reformation“. Leicester: Inter-Varsity Press, 1985, S. 185- 192.
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