4. Bündnis und Bekenntnis: Die gespaltene Reformation 1530-1555
Die Politisierung der reformatorischen Bewegung nach 1530 und der Schmalkaldische Bund unter Führung Landgraf Philipps von Hessen.
Gerhard Ritter, Die Neugestaltung Deutschlands und Europas im 16. Jahrhundert, Frankfurt-Berlin 1967, S. 165-172 (Auszüge)
„Mit dem Augsburger Reichstag ist die eigentlich heroische Epoche der lutherischen Bewegung in Deutschland, die Zeit der ersten stürmischen Erregung und des großen Durchbruchs durch die Widerstände alter Gewalten, zu Ende. Die grenzenlosen Erwartungen der ersten Jahre, alles deutsche Leben von Grund auf zu erneuern, haben sich nicht erfüllt. In der Sphäre der hohen Politik, bei den oberen Reichsständen, hat das Luthertum nur eine – vorläufig noch immer bescheidene – Minderheit für sich gewonnen. Sie wird sich rasch vermehren, aber nicht mehr im Sturm der allgemeinen Begeisterung, sondern in mühsamen Kämpfen von Landschaft zu Landschaft fortschreitend, nicht ohne starke Mitwirkung fürstlicher Familienpolitik. Am größten sind die Erfolge der neuen Lehre in den Städten, wo eine starke Volksbewegung die Obrigkeiten allmählich fast überall zu »Reformationen« zwingt. [...]
Ein offizielles Landeskirchentum grenzt sich immer schärfer gegen die enthusiastische Erregung der Massen, gegen die volkstümliche Frömmigkeit der Schwärmer ab. Aber auch innerhalb der offiziellen protestantischen Kirchen hat sich ein unversöhnlicher Zwiespalt der theologischen Richtungen erhoben, der schon jetzt in Streitschriften von geradezu unerträglicher Gehässigkeit und Roheit des Tons ausgefochten wird. Zumal, in, den Pamphleten Luthers selbst. Auch die Grenzen dieser Persönlichkeit treten jetzt deutlicher hervor. Die fröhliche Zuversicht seiner Anfangsjahre, das reine Wort Gottes werde schon wie von selber die Herzen umwandeln, man müsse es nur auf den Leuchter stellen, ist auch jetzt nicht erschüttert; aber sie wird durch viele schwere Erfahrungen von der Macht des Satanas, durch tiefes Mißtrauen gegen die Bosheit der Menschen immer mehr verfinstert. Leidenschaftlich, grimmig war seine Polemik schon immer gewesen; jetzt kann sie böse; eigensinnig, ja gehässig werden: Plötzlich sieht man hinter dem Propheten einen gereizten, seiner selbst nicht mehr mächtigen Menschen vor sich. Selbst die nächsten Freunde zittern vor ihm.
Der Reformator befand sich eben einer tief veränderten Welt gegenüber, die er nicht mehr und die ihn nicht mehr ganz verstand. Die rein religiöse Gesinnungspredigt, die dem eigentümlichen Genie Luthers im Grunde allein gemäß war, konnte längst nicht mehr genügen. Die religiöse Idee mußte lehrhaft verfestigt, überlieferbar gemacht, nach allen Seiten klar abgegrenzt werden. Das führte ganz von selbst in eine neue Scholastik mit neuen scholastischen Kontroversen hinein. Vor allem: Noch dringender als die Gesinnungspredigt war jetzt das Aufrichten äußerer Ordnungen. In der Sphäre des reinen Ideenkampfes ließ sich die Sache des Evangeliums auf die Dauer nicht festhalten. Vor die feinen und tiefen Probleme des religiösen Innenlebens schoben sich immer breiter und aufdringlicher die Alltagsfragen praktischer Kirchenpolitik.
Die religiöse Bewegung wurde politisiert. Wie unvermeidlich das war, hatte der Verlauf des Augsburger Reichstags auch dem Blindesten gezeigt. Hier stand nicht mehr bloß Überzeugung gegen Überzeugung, sondern zuletzt ganz deutlich Gewalt gegen Gewalt. Sollte die neue Kirche dem drohenden Ansturm der alten Mächte nicht erliegen, so mußte sie sich rüsten – so schwer das dem echten Lutheraner auch wurde –, mit allen Waffen der Politik um ihre Erhaltung zu kämpfen.
So traten neben den Theologen immer mehr die praktischen Staatsmänner als Führer der reformatorischen Bewegung hervor. Männer wie Landgraf Philipp von Hessen, der vielgeschäftige, immer lebendige, tatbereite, freilich auch wie-der unstete Sanguiniker – trotz aller Schwächen seines Charakters, trotz mancher Selbsttäuschung und Unsicherheit seines Urteils doch der weitaus klarste politische Kopf unter den protestantischen Fürsten jener Generation.
Oder der Straßburger Stättmeister Jakob Sturm, dessen ebenso mannhafte wie kluge, ebenso kühne und weitblickende wie bedächtig umsichtige Politik nur durch die natürliche Schwäche seines heimischen Machtbereichs in ihren Wirkungen gelähmt wurde. Die Politik dieser Männer und ihrer fürstlichen und städtischen Parteigenossen war eine echt idealistische, sofern sie jederzeit bereit war, »Leib, Hab und Gut für das Evangelium zu wagen«. Aber dieser Idealismus wuchs jetzt aus der ursprünglichen lutherischen Haltung der bloßen Leidensbereitschaft um des Glaubens willen zu kräftiger politischer Aktivität heran. Aus dem Gesinnungskampf drohte ein Machtkampf zu werden; es war ganz unvermeidlich, daß nun je länger je mehr rein irdische Machtinteressen sich mit den ursprünglichen religiösen Antrieben vermischten. Wo die lutherische Bewegung über die Grenzen Deutschlands hinauswirkte, vor allem in Nordeuropa, war das noch viel deutlicher zu beobachten. Das Evangelium Luthers, dessen Sinn die Loslösung der Religion aus aller Verflechtung mit irdischen Interessen gewesen war, gelangte zwangsläufig dahin, daß zum erstenmal in Europa seit den Tagen des Islam (und viel merkwürdiger als damals) die Religion in den Mittelpunkt der politischen Kämpfe eines Jahrhunderts rückte.
Das erste war der Zusammenschluß fast aller größeren protestantischen Reichsstände zu dem politischen Bündnis von Schmalkalden im Winter 1530/31. Wie später noch oft, so ging es auch damals: Nur die Gemeinsamkeit einer dringenden äußeren Gefahr vermochte den deutschen Protestantismus zur Überwindung seiner inneren Gegensätze zu bringen. Seit die Hoffnung der sächsischen Lutheraner, von Kaiser und Reich als rechtgläubig im Sinn der alten Kirche anerkannt zu werden, gescheitert war, mußten sie fürchten, isoliert zu bleiben; seither zeigten sie größere Willigkeit als vordem, sich mit den oberdeutschen Städten in der Abendmahlsfrage zu verständigen.
Das Hauptverdienst daran, daß es gelang, gebührt dem Straßburger Professor und Prädikanten Martin Butzer, der in den Einigungs- und Bündnisverhandlungen der nächsten anderthalb Jahrzehnte als die eigentlich führende Theologengestalt hervortritt. Ein lebhafter, überaus gescheiter und betriebsamer Elsässer, das Urbild des Vermittlungstheologen: anpassungsfähig, begabt, wendig – manchmal bis zur Peinlichkeit, bis zum offenbaren Selbstbetrug, aber immer voll Eifer. [...] Ihn trieb nicht hemmungslose Leidenschaft, sondern redlicher, verständiger, idealistischer Eifer um die Einheit des Protestantismus; es widerstrebte ihm, überall sogleich den Satan zu wittern, solange noch irgendeine Hoffnung war, auf guten Willen und verständige Einsicht zu stoßen. Was ihn von dem humanistischen Lutheraner Melanchthon unterschied, mit dem er vielfach eng zusammengearbeitet hat, war die unvergleichlich größere Freiheit seiner äußeren Stellung und die größere Kraft des Charakters. Nicht als unselbständiges Werkzeug eines Stärkeren, sondern als führender Kopf des oberdeutschen Protestantismus, als vertrauter Berater Sturms und des Landgrafen Philipp trat er auf den Religions- und Ständetagen auf, und nicht innerlich-unsicher, wie der ewig verzagte, weltfremde Magister Melanchthon, sondern als ein kritisch hellblickender Kenner der Welt. [...]
In der Epoche protestantischer Bündnisbildung nach dem Augsburger Reichstag war eine solche Persönlichkeit praktisch ganz unentbehrlich. Noch in den letzten Wochen des Reichstags war es ihm in persönlicher Unterredung geglückt, Luther von der Rechtgläubigkeit der oberdeutschen Abendmahlslehre, wie er sie selbst in der »Tetrapolitana« formuliert hatte, zu überzeugen. Tatsächlich gelang es so, die Aufnahme der oberdeutschen Städte in das schmalkaldische Gesamtbündnis durchzusetzen. Freilich war das nur möglich durch Aufstellung überaus künstlicher Lehrformeln, die sich vollständig lutherisch ausdeuten ließen und den in Wahrheit doch noch fortbestehenden Gegensatz zwischen der mystischen Sakramentsauffassung der Wittenberger und der spiritualistischen der Oberdeutschen und Schweizer mehr verhüllten als wirklich beseitigten. [...] Das Endergebnis aller Bemühungen war die Wittenberger Konkordienformel von 1536, die von allen oberdeutschen Städten außer Konstanz angenommen wurde. Die Selbständigkeit der oberdeutschen Theologie war damit in Wahrheit geopfert: Nur der geschickteste Dialektiker vermochte mit dieser Formel noch eine andere als die streng lutherische Abendmahlslehre zu verbinden. Nach und nach ist so das Luthertum zur Herrschaft im ganzen deutschen Protestantismus gelangt. Aber mit diesem Opfer an geistiger Selbständigkeit wurde die politische Einigung aller protestantischen Reichsstände ermöglicht.
Sie vollzog sich in rasch fortschreitendem Ausbau des Schmalkaldischen Bundes. Ursprünglich sollte er nur der gemeinsamen Abwehr der Kammergerichtsprozesse dienen, die der Reichsfiskal seit 1530 gegen die Neugläubigen angestrengt hatte; außerdem wollte man die Wahl Ferdinands zum »römischen König«, den Kaiser Karl jetzt statt des Reichsregiments mit seiner Stellvertretung zu betrauen gedachte, nicht anerkennen. Konflikte, die daraus entspringen würden, beschloß man gemeinsam durchzufechten. Daraus entstand ein förmliches Verteidigungsbündnis gegen den Kaiser. Aber hatten die Stände als »Untertanen« überhaupt das Recht, sich gegen Gewaltmaßnahmen ihrer kaiserlichen »Obrigkeit« zu wehren? Darüber ist im lutherischen Lager immer wieder hin und her gestritten worden. Der Reformator selbst hat sich, nach den Augsburger Erfahrungen mit dem Kaiser, schließlich von Landgraf Philipp und den sächsischen Juristen überzeugen lassen, daß die Reichsstände gar nicht »Untertanen« im strengen Sinn wären, sondern selber Obrigkeiten und in erster Linie für das Seelenheil ihrer Untertanen verantwortlich. [...] So konnte der Schmalkaldische Bund ungestört an den Ausbau seiner inneren Verfassung gehen. Sie blieb schwerfällig genug: Eine gemeinsame Heeresmacht von zwölftausend Mann, über deren Kosten man sich im voraus einigte, sollte nur in Notfällen aufgestellt werden; Sachsen und Hessen wurden Bundeshauptleute mit halbjährlich wechselndem Oberbefehl; alle Beschlüsse wurden mit Mehrheit nach einem festen Stimmverhältnis gefasst, das den fürstlichen Mitgliedern das Übergewicht sicherte. Das alles gab reichlich Gelegenheit zu inneren Reibungen; dennoch war der neue Bund zunächst die stärkste innerdeutsche Macht, da der Schwäbische Bund, das frühere Werkzeug der Habsburger, sich eben damals infolge der konfessionellen Gegensätze auflöste. Die Mitgliederzahl des neuen Bundes wuchs beständig an. Schon 1532 knüpften auswärtige Mächte wie Frankreich, England, Dänemark und Johann Zapolya, der Machthaber von Ungarn, Verbindung mit den Bundeshäuptern an. [...]
Die politische Wirkung des Augsburger Reichstags war nach alledem sehr unerwartet: ein Zusammenschluß aller kaiserfeindlichen Opposition, während die alten Lähmungen kaiserlicher Politik im Osten und Westen, zuletzt auch in Rom, weiter fortdauerten. Vor allem drohte der große Ansturm der Türken auf Wien, der 1529 noch einmal glücklich abgeschlagen war, sich jetzt zu erneuern. Damals hatte der Sultan Johann Zapolya, den Rivalen Ferdinands, als König von Ungarn unter türkischer Oberhoheit anerkannt. jetzt versuchten die Habsburger vergeblich, sich mit Zapolya auszusöhnen; sie hätten ihm Ungarn freiwillig überlassen, wenn sie nur das Erbrecht dort behielten. Aber der Sultan, der die innere Schwäche der weitverstreuten kaiserlichen Macht sehr wohl kannte, ließ sich auf kein solches Anerbieten ein; 1532 unternahm er einen neuen großen Vorstoß gegen Wien. Um sich die Hilfe der Reichsstände hiergegen zu sichern, blieb dem Kaiser nichts übrig, als den Protestanten in Nürnberg einen sogenannten »Anstand«, das heißt eine Art von Waffenstillstand in Glaubenssachen zu gewähren — bis zu einem in nahe Aussicht gestellten Konzil. Der Vertrag erfüllte bei weitem nicht alle Wünsche der Schmalkaldener und hätte bei größerer Hartnäckigkeit Kursachsens wahrscheinlich noch erweitert werden können. Aber er leitete doch eine neue Epoche der Provisorien ein, die ähnlich wie in den zwanziger Jahren der weiteren Ausbreitung und Festigung der Reformation günstig war.
Unter Führung Landgraf Philipps wagte jetzt der Schmalkaldische Bund sogar ein offensives Vorgehen und errang damit seinen größten Erfolg: die Rückeroberung Württembergs für den vertriebenen Herzog Ulrich. Freilich nicht ohne Hilfe des Auslandes: Frankreich, dem die württembergische Grafschaft Mömpelgard an der Grenze von Burgund verpfändet wurde, zahlte stattliche Hilfsgelder. Damit warb Philipp, ohne sich viel um die Abmachungen und Gewissensbedenken Kursachsens zu kümmern, ein stattliches Heer von vierundzwanzigtausend Mann, das mühelos die schwachen Truppen des österreichischen Statthalters auseinanderspengte. Infolge der Auflösung des Schwäbischen Bundes blieb König Ferdinand ohne jede Unterstützung; auch der Papst und die altgläubigen Stände blieben tatenlose, ja wohl gar schadenfrohe Zuschauer. So mußte der Habsburger im Frieden von Kaaden (1534) nicht nur die Herrschaft Ulrichs (formell als Aftervasall Österreichs) anerkennen, ihm die Reichsstandschaft und (indirekt) das Recht zur Einführung der Reformation zubilligen, sondern obendrein den Protestanten neue Zusagen in der Frage der Kammergerichtsprozesse gewähren. Dafür erkannten sie sein Königtum jetzt an (Sachsen freilich nur vorläufig) und verzichteten auf die Fortsetzung des Kampfes gegen die österreichischen Erblande, den der Geldgeber König Franz von Frankreich gewünscht hatte.
Für die Protestantenpartei war der Gewinn Württembergs unschätzbar. Nicht nur, weil damit ihr Bekenntnis in einem der wichtigsten süddeutschen Territorien festen Fuß faßte, sondern vor allem auch deshalb, weil hier zuerst ein Ausgleich zwinglischer und lutherischer Reformideen gefunden wurde, der für die spätere Gestalt des oberdeutschen Luthertums vorbildlich geworden ist. Dieser erste große Erfolg hat in den nächsten Jahren dem Bunde eine ganze Reihe wichtiger neuer Mitglieder zugeführt: die Städte Augsburg, Frankfurt, Hannover, Hamburg, das Herzogtum Pommern, zwei Fürsten von Anhalt und andere mehr. Die Reformation aber breitete sich unaufhaltsam immer weiter aus: von den schwäbischen Städten über Nassau, Westfalen und den Niederrhein bis nach den niedersächsischen Gebieten, östlich der Elbe von Schlesien bis nach Pommern und Mecklenburg. Es war niemand da, der ihr ernstlich Einhalt gebot.“
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