13. Auf dem Wege der Demokratie: 4.1. Die Entnazifizierung
Eines der erklärten Hauptziele der amerikanischen Besatzungsmacht war die gründliche Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft nach zwölf Jahren Hitler-Diktatur. Überzeugt von der Kollektivschuld des deutschen Volkes, wollten die Amerikaner alle ehemaligen Nationalsozialisten aus der öffentlichen Verwaltung und leitenden Stellen der Wirtschaft entfernen.
Unmittelbar nach der Besetzung verboten die Amerikaner sämtliche NS-Organisationen und internierten ihre bedeutenderen Funktionäre, soweit sie ihrer habhaft wurden. Auch höhere NS-Beamte wurden gleich in den ersten Wochen aus ihren Positionen in der öffentlichen Verwaltung entlassen und ebenfalls in Lager auf der „grünen Wiese" verbracht.
Dies war aber nur der erste Schritt. Im Sommer 1945 wurden Zehntausende von Beamten, Angestellten und Arbeitern aus dem öffentlichen Dienst entlassen, die vor dem 1. Mai 1937 in die NSDAP eingetreten waren; an diesem Tag hatte das NS-Regime ein neues Beamtengesetz erlassen und seitdem den Druck auf die Mitarbeiter in den öffentlichen Verwaltungen verstärkt, der NSDAP beizutreten. In manchen Stadtverwaltungen verringerte sich durch diese Maßnahme der Besatzungsmacht der Personalbestand innerhalb weniger Wochen um mehr als ein Drittel.
Das Gesetz Nr. 8 der Militärregierung vom 26. September 1945 verfügte schließlich auch die Entfernung ehemaliger Mitglieder von NS-Organisationen aus leitenden Stellungen in den Wirtschaftsunternehmen, sie durften dort nur noch „gewöhnliche Arbeit" leisten. Durch die amerikanischen Entnazifizierungsmaßnahmen waren im Mai 1946 schließlich 26% der leitenden Angestellten aus der privaten Wirtschaft sowie 57% der Beamten und 34% der Angestellten im öffentlichen Dienst entlassen worden.
Ein positives Ergebnis dieses radikalen Vorgehens war, daß dadurch in den öffentlichen Verwaltungen in ganz erheblichem Umfang Raum geschaffen wurde für die Einstellung neuer, unbelasteter Kräfte. Gleichwohl war der amerikanischen Militärregierung klar, daß sich angesichts von Millionen Mitgliedern der NS-Massenorganisationen und des Mangels an Fachkräften in lebensnotwendigen Verwaltungs- und Versorgungsbereichen eine solch weitgehende Entlassungspraxis, die auch nominelle Parteigenossen einbezog, nicht auf längere Zeit durchhalten ließ. Mit der Beurteilung der individuellen Schuld im Einzelfall fühlte sich die Militärverwaltung aber überfordert, so daß sie die Entnazifizierung schließlich den deutschen Regierungen übertrug.
Während diese dafür eintraten, nur die wirklich aktiven Nationalsozialisten zur Rechenschaft zu ziehen, bestand die amerikanische Militärregierung darauf, daß jedes - auch nur nominelle - Mitglied einer NS-Organisation in einem schriftlichen oder mündlichen Verfahren entnazifiziert werden müßte. Die weitgefaßten amerikanischen Kategorien, so ahnten die Ministerpräsidenten zu recht, würden zu Massenverfahren führen, die in absehbarer Zeit nicht zu bewältigen waren. Doch die Amerikaner beharrten auf ihrem Standpunkt: Von der erfolgreichen Durchführung ihrer Vorstellungen, so erklärten sie unmißverständlich, würde nicht zuletzt die weitere Übertragung von politischer Verantwortung an die Deutschen abhängen.
In diesem Sinne schuf das „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" vom 5. März 1946 die Grundlage für das weitere Vorgehen. Jetzt wurden alle Mitglieder von NS-Organisationen von einem „Öffentlichen Kläger" nach den strengen „automatischen Kategorien" der Militärregierung angeklagt. Die Durchführung der, je nach Fall, schriftlichen oder mündlichen Verfahren oblag in Hessen 101 Spruchkammern sowie 8 Berufungskammern, die teils mit Juristen, teils mit Mitgliedern der politisehen Parteien besetzt wurden. Sie nahmen die Einstufung der Betroffenen in 5 Gruppen vor:
1. Hauptschuldige
2. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer)
3. Minderbelastete
4. Mitläufer (in der Regel nur nominelle Mitglieder)
5. Entlastete
Als Sühnemaßnahmen sah das Gesetz bei Mitläufern Geldbußen vor, bei stärker Belasteten Beschäftigungsverbote (bis zu zehn Jahren bzw. Beschäftigung in geringerer Stellung), Einzug des Vermögens (zum Zwecke der Wiedergutmachung) und Arbeitslager (bei Hauptschuldigen bis zu zehn Jahren). Den Betroffenen blieb es überlassen, im Spruchkammerverfahren Entlastungsmaterial - im Volksmund „Persilscheine" genannt - vorzulegen, das für eine günstigere Einstufung sprach.
Die Aufgabe war enorm: Allein in Hessen mußten fast eine Million Verfahren eingeleitet werden. Viele Betroffene mußten Jahre auf ihren Spruchkammerbescheid warten, was einem zeitweiligen Berufsverbot gleichkam, da der Bescheid häufig Voraussetzung für die berufliche Wiedereingliederung war. Fachkräfte wurden aber fast überall dringend benötigt. Dies führte zu einer heftigen Diskussion, in der auch ehemalige KZ-Häftlinge wie Eugen Kogon und Martin Niemöller für ein „Recht auf politischen Irrtum" bei denjenigen Betroffenen eintraten, die nur nominelles Mitglied einer NS-Massenorganisation gewesen waren.
Von 1947 an wandelte sich allmählich die amerikanische Politik. Die Schlüsselstellungen der Verwaltung waren inzwischen mit Demokraten oder Unbelasteten besetzt, und das Wiederaufleben von NS-Organisationen wurde als höchst unwahrscheinlich eingeschätzt. Den amerikanischen Steuerzahlern, die eine aufwendige Besatzungsverwaltung und umfangreiche Hilfsimporte finanzierten, war schwer verständlich zu machen, daß immer noch viele geringfügig Belastete auf ihr Entnazifizierungsverfahren warteten und ihre Arbeitskraft brachlag. Außerdem änderte sich die politische „Großwetterlage": Das Problem des offenbar überwundenen Nationalsozialismus wurde allmählich von der Frontstellung gegen den Kommunismus überlagert.
Schrittweise gab es Erleichterungen für einen Teil der Betroffenen. Nach der Jugendamnestie für Mitläufer und Minderbelastete sowie der Weihnachtsamnestie für Mitläufer mit kleinem Einkommen, deren Strafen absehbar auf geringe Geldzahlungen hinausliefen, wurde noch im Jahr 1946 die auf die amerikanischen „automatischen Kategorien" zurückgehende Anklage- und Sühnepraxis immer mehr gelockert. Die weitaus meisten Betroffenen durften nach einiger Zeit wieder in ihre Stellungen in Wirtschaft und öffentlichen Dienst zurückkehren. Schließlich drängten Anfang 1948 die Amerikaner auf das rasche Ende der Entnazifizierung. Es waren jetzt die deutschen Länderregierungen, die erfolgreich dafür eintraten, die Spruchkammerverfahren gegen belastete NS-Funktionäre bis 1954 weiterzuführen.
Unmittelbar nach der Besetzung verboten die Amerikaner sämtliche NS-Organisationen und internierten ihre bedeutenderen Funktionäre, soweit sie ihrer habhaft wurden. Auch höhere NS-Beamte wurden gleich in den ersten Wochen aus ihren Positionen in der öffentlichen Verwaltung entlassen und ebenfalls in Lager auf der „grünen Wiese" verbracht.
Dies war aber nur der erste Schritt. Im Sommer 1945 wurden Zehntausende von Beamten, Angestellten und Arbeitern aus dem öffentlichen Dienst entlassen, die vor dem 1. Mai 1937 in die NSDAP eingetreten waren; an diesem Tag hatte das NS-Regime ein neues Beamtengesetz erlassen und seitdem den Druck auf die Mitarbeiter in den öffentlichen Verwaltungen verstärkt, der NSDAP beizutreten. In manchen Stadtverwaltungen verringerte sich durch diese Maßnahme der Besatzungsmacht der Personalbestand innerhalb weniger Wochen um mehr als ein Drittel.
Das Gesetz Nr. 8 der Militärregierung vom 26. September 1945 verfügte schließlich auch die Entfernung ehemaliger Mitglieder von NS-Organisationen aus leitenden Stellungen in den Wirtschaftsunternehmen, sie durften dort nur noch „gewöhnliche Arbeit" leisten. Durch die amerikanischen Entnazifizierungsmaßnahmen waren im Mai 1946 schließlich 26% der leitenden Angestellten aus der privaten Wirtschaft sowie 57% der Beamten und 34% der Angestellten im öffentlichen Dienst entlassen worden.
Ein positives Ergebnis dieses radikalen Vorgehens war, daß dadurch in den öffentlichen Verwaltungen in ganz erheblichem Umfang Raum geschaffen wurde für die Einstellung neuer, unbelasteter Kräfte. Gleichwohl war der amerikanischen Militärregierung klar, daß sich angesichts von Millionen Mitgliedern der NS-Massenorganisationen und des Mangels an Fachkräften in lebensnotwendigen Verwaltungs- und Versorgungsbereichen eine solch weitgehende Entlassungspraxis, die auch nominelle Parteigenossen einbezog, nicht auf längere Zeit durchhalten ließ. Mit der Beurteilung der individuellen Schuld im Einzelfall fühlte sich die Militärverwaltung aber überfordert, so daß sie die Entnazifizierung schließlich den deutschen Regierungen übertrug.
Während diese dafür eintraten, nur die wirklich aktiven Nationalsozialisten zur Rechenschaft zu ziehen, bestand die amerikanische Militärregierung darauf, daß jedes - auch nur nominelle - Mitglied einer NS-Organisation in einem schriftlichen oder mündlichen Verfahren entnazifiziert werden müßte. Die weitgefaßten amerikanischen Kategorien, so ahnten die Ministerpräsidenten zu recht, würden zu Massenverfahren führen, die in absehbarer Zeit nicht zu bewältigen waren. Doch die Amerikaner beharrten auf ihrem Standpunkt: Von der erfolgreichen Durchführung ihrer Vorstellungen, so erklärten sie unmißverständlich, würde nicht zuletzt die weitere Übertragung von politischer Verantwortung an die Deutschen abhängen.
In diesem Sinne schuf das „Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus" vom 5. März 1946 die Grundlage für das weitere Vorgehen. Jetzt wurden alle Mitglieder von NS-Organisationen von einem „Öffentlichen Kläger" nach den strengen „automatischen Kategorien" der Militärregierung angeklagt. Die Durchführung der, je nach Fall, schriftlichen oder mündlichen Verfahren oblag in Hessen 101 Spruchkammern sowie 8 Berufungskammern, die teils mit Juristen, teils mit Mitgliedern der politisehen Parteien besetzt wurden. Sie nahmen die Einstufung der Betroffenen in 5 Gruppen vor:
1. Hauptschuldige
2. Belastete (Aktivisten, Militaristen, Nutznießer)
3. Minderbelastete
4. Mitläufer (in der Regel nur nominelle Mitglieder)
5. Entlastete
Als Sühnemaßnahmen sah das Gesetz bei Mitläufern Geldbußen vor, bei stärker Belasteten Beschäftigungsverbote (bis zu zehn Jahren bzw. Beschäftigung in geringerer Stellung), Einzug des Vermögens (zum Zwecke der Wiedergutmachung) und Arbeitslager (bei Hauptschuldigen bis zu zehn Jahren). Den Betroffenen blieb es überlassen, im Spruchkammerverfahren Entlastungsmaterial - im Volksmund „Persilscheine" genannt - vorzulegen, das für eine günstigere Einstufung sprach.
Die Aufgabe war enorm: Allein in Hessen mußten fast eine Million Verfahren eingeleitet werden. Viele Betroffene mußten Jahre auf ihren Spruchkammerbescheid warten, was einem zeitweiligen Berufsverbot gleichkam, da der Bescheid häufig Voraussetzung für die berufliche Wiedereingliederung war. Fachkräfte wurden aber fast überall dringend benötigt. Dies führte zu einer heftigen Diskussion, in der auch ehemalige KZ-Häftlinge wie Eugen Kogon und Martin Niemöller für ein „Recht auf politischen Irrtum" bei denjenigen Betroffenen eintraten, die nur nominelles Mitglied einer NS-Massenorganisation gewesen waren.
Von 1947 an wandelte sich allmählich die amerikanische Politik. Die Schlüsselstellungen der Verwaltung waren inzwischen mit Demokraten oder Unbelasteten besetzt, und das Wiederaufleben von NS-Organisationen wurde als höchst unwahrscheinlich eingeschätzt. Den amerikanischen Steuerzahlern, die eine aufwendige Besatzungsverwaltung und umfangreiche Hilfsimporte finanzierten, war schwer verständlich zu machen, daß immer noch viele geringfügig Belastete auf ihr Entnazifizierungsverfahren warteten und ihre Arbeitskraft brachlag. Außerdem änderte sich die politische „Großwetterlage": Das Problem des offenbar überwundenen Nationalsozialismus wurde allmählich von der Frontstellung gegen den Kommunismus überlagert.
Schrittweise gab es Erleichterungen für einen Teil der Betroffenen. Nach der Jugendamnestie für Mitläufer und Minderbelastete sowie der Weihnachtsamnestie für Mitläufer mit kleinem Einkommen, deren Strafen absehbar auf geringe Geldzahlungen hinausliefen, wurde noch im Jahr 1946 die auf die amerikanischen „automatischen Kategorien" zurückgehende Anklage- und Sühnepraxis immer mehr gelockert. Die weitaus meisten Betroffenen durften nach einiger Zeit wieder in ihre Stellungen in Wirtschaft und öffentlichen Dienst zurückkehren. Schließlich drängten Anfang 1948 die Amerikaner auf das rasche Ende der Entnazifizierung. Es waren jetzt die deutschen Länderregierungen, die erfolgreich dafür eintraten, die Spruchkammerverfahren gegen belastete NS-Funktionäre bis 1954 weiterzuführen.
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