6. Berufliche Integration
VI. Berufliche Integration
Hessenplan
Bis zur Währungsreform war die hohe Arbeitslosigkeit der Flüchtlinge verschleiert, weil die Landwirtschaft "einen erwünschten Unterschlupf gegen Kost und Wohnung und niedrigste Entlohnung" bot. Doch nach der Währungsreform zeigte sich die hohe Arbeitslosigkeit auf dem Lande: Harte Währung konnten und wollten die Bauern den Flüchtlingen für Hilfsarbeiten nicht bezahlen. Um die Arbeitslosigkeit auf dem Land zu bekämpfen, mußten also zusätzliche Arbeitsplätze in der Nähe der Wohnplätze der Vertriebenen geschaffen werden. Ein Schritt in diese Richtung war der 1949 begonnene Schlüchtern-Plan, den die Initiatoren, organisiert in dem sogenannten Ständigen Ausschuß für Selbsthilfe, als "soziales Experiment" bezeichneten. Dem Ausschuß gehörten Vertreter von Organisationen an, die dem Gedanken der Selbsthilfe ihre Entstehung und Bedeutung verdankten, wie z.B. Genossenschaften, Gewerkschaften, Sparkassen, Wohnungsämter und Wohlfahrtsverbände. Der Landrat des Kreises Schlüchtern, Jansen, stand diesem Experiment sehr aufgeschlossen gegenüber und unterstützte es tatkräftig. Es gelang in kurzer Zeit, 453 Dauerarbeitsplätze und 220 Wohnungen zu schaffen.
Der Schlüchternplan bestach durch die breite Mitarbeit von Bewohnern des Kreises. Vorschläge für neue Arbeitsplätze kamen von ansässigen Firmen; die Auswahl der Wohnungsbauvorhaben, meist steckengebliebene Bauten, erfolgte durch eine örtliche Kommission, und bei Flurbereinigungsverfahren zur Beschaffung von Gartenland, zur Eingliederung heimatvertriebener Landwirte und schließlich zur Verbesserung der Agrarstruktur des Kreises wirkten die einheimischen Bauern mit. Selbsthilfe - und das scheint ein Erfolgsgeheimnis des Schlüchternplanes - wurde hier nicht nur auf die Vertriebenen bezogen, sondern auf die gesamte Bevölkerung des Kreises. Eine grundlegende Voraussetzung für den Erfolg der Arbeit war freilich auch, daß jetzt im Rahmen des Soforthilfegesetzes von 1949 erstmals erhebliche öffentliche Mittel zur Verfügung standen.
Die überwiegend positiven Erfahrungen mit dem Schlüchternplan regten die hessische Regierung an, Abhilfe bei der Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit durch umfassende eigene Investitionen zu schaffen. Unterstützend wirkte sicher, daß der amerikanische Bankier Christian Sonne mit einem deutsch-amerikanischen Beraterstab, zu dem auch Nahm gehörte, im Jahr 1950 daranging, einen Bundesplan für die Eingliederung der Heimatvertriebenen zu entwerfen. Der Plan wurde zwar nicht realisiert, doch bot dieses Vorgehen Einblicke in Problemlösungen anderer Länder, lieferte Grunddaten und beflügelte insgesamt die planerische Phantasie. Gleichzeitig hatte Nahm in Zusammenarbeit mit dem Landesplanungsamt und dem Landesarbeitsamt "Die Grundgedanken des Hessenplans" erarbeitet, die Mitte September 1950 der Öffentlichkeit vorgelegt wurden. Die konkrete Ausformung trug Ministerpräsident Zinn in seiner Regierungserklärung vom 10. Januar 1951 vor.
Der Leitgedanke des Hessenplans war, entweder die Arbeit zu den auf dem Lande untergebrachten Heimatvertriebenen zu bringen oder in den Fällen, wo das nicht möglich war, die Menschen zur Arbeit zu bringen. Eine solche Maßnahme wurde um so dringender, weil Hessen im Rahmen der Bundesumsiedlung weitere Vertriebene aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern aufnehmen sollte.
Die 1950 formulierten Planziele waren: erstens sollten 100 000 Menschen aus Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit in Gemeinden mit günstigerer Arbeitsmarktlage umgesiedelt werden, und zweitens sollten in den Notstandsgebieten 25 000 neue Arbeitsplätze für Vertriebene geschaffen werden. Drittens wurde angestrebt, 3000 landwirtschaftliche Siedlerstellen zu errichten.
Die Eingliederungshilfen für Flüchtlinge in den 1950er Jahren wurden insgesamt stark durch Maßnahmen des Bundes geprägt. Zu nennen sind hier vor allem das Soforthilfegesetz von 1949, das Bundesvertriebenen- und das Lastenausgleichsgesetz von 1953. Diese Gesetze haben für die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen und den sozialen Frieden in der Bundesrepublik eine enorme Bedeutung gehabt, und sie bildeten auch die finanzielle Grundlage für viele Fördermaßnahmen der Länder.
Musikinstrumentenbau und Glasindustrie
Besonders erfolgversprechend schien der Landesregierung die Förderung sudetendeutscher Spezialindustrien, die es bislang nicht oder kaum in Hessen gab, und die einen Großteil ihrer Produkte im Ausland verkaufen konnten. Zum einen waren diese Spezialhandwerker zunächst fast alle arbeitslos, und zum anderen opponierten die einheimischen Kammern nicht gegen die Unterstützung dieser Industrien. Um die Ansiedlung der Gablonzer und Haida-Steinschönauer Glasindustrie, der Graslitzer und Schönbacher Musikinstrumentenin-dustrie sowie der Schlesischen und Lausitzer Textilindustrie gab es Rivalitäten zwischen Bayern und Hessen und in Hessen sogar zwischen einzelnen Gemeinden.
Die Musikinstrumentenbauer aus Graslitz und Schönbach im Erzgebirge, dem "Musikwinkel", hatten sich in Hessen überwiegend im Raum Nauheim bei Groß-Gerau niedergelassen. Anfangs war für die Standortwahl entscheidend, ob sich in der Nähe der gerade zugewiesenen ersten Unterkunft geeignete Fabrikräume oder Werkstätten finden ließen. Gelegentlich, wie z.B. bei der Ansiedlung der Musikinstrumentenindustrie in Nauheim, ging auch die Initiative von einzelnen Bürgermeistern aus. Hier wurde zunächst in Abstellräumen, Waschküchen und Tanzsälen gearbeitet. Auch das Werkzeug wurde häufig selbst gebaut. Bereits 1946 hatten sich 13 Firmen in Nauheim niedergelassen. Sie beschäftigten 1950 über 400 Fachkräfte. Dazu gehörten so bekannte Firmen wie Sandner, Köstler und Keilwerth. (Dok. 28)
Die ehemals sudetendeutsche Haida-Steinschönauer Glasindustrie ist in Hessen weiter gestreut als die Musikinstrumentenindustrie. Ein Schwerpunkt liegt in Hadamar, aber auch in kleineren Orten finden sich namhafte Glaswerke, so z.B. in Stierstadt im Taunus, Löhnberg bei Weilburg und Hattersheim am Main sowie schließlich die berühmte Süßmuth-Hütte in Immenhausen im Kreis Hofgeismar. Die Streuung brachte Wettbewerbsnachteile mit sich: Nicht nur die Wege zu den Zulieferern waren länger als in der Heimat, sondern es war auch schwieriger, Fachkräfte zu gewinnen und Nachwuchs auszubilden. Deswegen gründete das Land Hessen 1949 in Hadamar eine Glasfachschule. Dort wurden auch viele Einheimische zu Glasmachern ausgebildet. Sie stellten bald ein Drittel der Beschäftigten. Gegen Ende der 50er Jahre umfaßte die hessische Glasindustrie 60 Betriebe mit fast 5000 Beschäftigten.
Eine Glasschleiferei hat sich auch auf dem Kohlheck in Wiesbaden angesiedelt, die Firma Karl Neubert aus Steinschönau. Karl Neubert erinnert sich noch genau an seine Überlegungen bei der Gründung des Betriebes. Als er in der Dotzheimer Straße für seine Familie ein Schlafzimmer und einen Hühnerstall mieten konnte, in dem sie sich eine Küche einrichten sollten, hatte er eine sofort eine Idee : "Da dachte ich: Küche muß nicht sein, mach 'ne Werkstatt rein.... Gegen Ende September bin ich hergekommen und am 2. Oktober haben wir schon geschliffen. Wir hatten damals keine Rohlinge, weil es in den ersten Jahren hier keine Glasfabrik gab. Mit dem Glas-Kahl war ich schon im Kriege gut bekannt. Der hat mir die ganzen Bruchscheiben aufgehoben, die Autoscheiben, die haben wir dann geschliffen und abends haben wir dann Holzfüße drangeschnitzt und da wurden sie verkauft: eine Platte gegen eine Packung Amizigaretten. Geraucht habe ich keine. Das brauchten wir ja alles zum Aufbau." (Dok. 29)
Textilindustrie
Noch weiter gestreut als die Glasindustrie ist die Textilindustrie, die vor allem aus Schlesien und der Lausitz nach Hessen kam. Neben größeren Zentren in Korbach und Arolsen war sie über ganz Hessen verteilt. Als erste Produktionsräume dienten häufig verfallene Fabrikgebäude, Lagerbaracken, Säle, Bunker oder - wie in Wiesbaden-Kohlheck - Kasernenanlagen. Im Textil- und Bekleidungsgewerbe arbeiteten gegen Ende der 50er Jahre ca. 7500 Personen in über 200 Flüchtlingsbetrieben. In der Textilindustrie war die Konkurrenz einheimischer Firmen sehr stark. (Dok. 29) Der Zwang, sich gegen einheimische Konkurrenz durchsetzen zu müssen, die bessere Beziehungen, einen höheren Eigenkapitalanteil und günstigere Standorte hatte, sowie die gemeinsam erlebten Schicksalsschläge führten dazu, daß einer für den anderen einstand. Daraus ergab sich offenbar ein Betriebsklima, das den Flüchtlingsbetrieben das Überleben ermöglichte. Die Gewerkschaften hatten es schwer, hier Fuß zu fassen.
Die vertriebenen Unternehmer wandten sich auf der Suche nach Produktionsräumen auch an staatliche Stellen, die früheres Wehrmachtsgelände als Industriegelände verpachteten. Dazu gehörten neben den bekannten Munitionsfabriken Allendorf und Hessisch-Lichtenau auch das Kriegsgefangenlager Trutzhain und die Industriehöfe Frankenberg und Wolfhagen. Gefangenen- und Fremdarbeiterbaracken boten erste Unterkunft für die Vertriebenen. In Allendorf, heute eine der größten Flüchtlingssiedlungen in der Bundesrepublik, konnten in den 50er Jahren 150 Industriebetriebe angesiedelt werden, die 7000 Arbeitsplätze boten. Der Arbeitsmarkt der Umgebung wurde dadurch stark entlastet. Bereits in den frühen 60er Jahren wurden zusätzlich ausländische Arbeiter angeworben und in Allendorf ansässig.
Heimatvertriebene Landwirte
Am schwierigsten war die Eingliederung der heimatvertriebenen Landwirte, weil es wenig verfügbares Land gab. In Hessen dominierte der bäuerliche Kleinbetrieb, dem man kein Land entziehen konnte, ohne seine Existenz zu gefährden, und den Großgrundbesitzern gelang es zumeist, die Durchführung der Bodenreform zu verhindern. So waren 1949 von fast 5000 heimatvertriebenen Bauern in Hessen rund 90% ohne eigenen Betrieb. Die meisten waren gezwungen, neue Berufe zu ergreifen, wobei sie oft beachtliches Geschick bewiesen. Bei Daimler in Stuttgart z.B. gehörten gerade heimatvertriebene Bauern schon bald zu der bei der Betriebsleitung angesehensten Facharbeiterschaft.
Ein Beispiel dafür, wie schwer es in dem dichtbesiedelten Hessen war, ungenutztes Land zu finden, ist die Siedlung für heimatvertriebene Landwirte in Lettgenbrunn im Spessart - heute ein idyllischer Ort, der 1947 aber einen Tiefpunkt seiner Wechsel vollen Geschichte erreicht hatte: Im Dreißigjährigen Krieg wurde Lettgenbrunn fast völlig zerstört und dann neu besiedelt. Gegen Ende des Kaiserreichs 1912 mußten die Bewohner einem Truppenübungsplatz weichen und wurden ausgesiedelt. Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte die zweite Neubesiedlung, u.a. mit ausgewiesenen Elsässern. 1935 wurde der Ort wieder geräumt und als Bombenabwurf-Übungsplatz dem Erdboden gleichgemacht. 1947 erfolgte die dritte Neubesiedlung mit heimatvertriebenen Bauern. (Dok. 30)
Hessische Flüchtlingssiedlungen
In Hessen entstanden keine großen Siedlungen nur für Vertriebene, sondern ganz überwiegend Siedlungen, in denen Einheimische und Vertriebene nebeneinander wohnen. Von Anfang an war es das Ziel der hessischen Flüchtlingspolitik zu verhindern, daß Flüchtlinge und Vertriebene in Ghettos leben mußten. Auch der Hessenplan trug diesem Grundsatz Rechnung, denn beim Wohnungsbau im Rahmen des Hessenplans konnten Kreise und Gemeinden einen Teil der Wohnungen für die einheimische Bevölkerung reservieren. So wurde der ursprüngliche Plan ergänzt um 1. das Sonderprogramm des sozialen Wohnungsbaus für den Wiederaufbau der Stadtkerne; 2. die Einbeziehung der Fliegergeschädigten und Evakuierten in die innere Umsiedlung; 3. die Schaffung von Schwerpunktwohnungen zur Unterbringung von industriellen Facharbeitern und Schlüsselkräften; 4. Maßnahmen zur sozialen Aufrüstung des Dorfes. So entwickelte sich der Hessenplan, der ursprünglich zur Eingliederung der Vertriebenen aufgestellt wurde, zu einem Landesentwicklungsplan.
Dennoch gibt es auch in Hessen einige bekannte größere Flüchtlings- und Vertriebenensied-lungen, die auf Grund besonderer Initiativen entstanden sind. Wiesbadens größte Vertriebe-nensiedlung - die Siedlung Kohlheck - gilt heute als ein "Schmuckstück auf der Höhe". (Dok. 31) Fast alle Siedlungshäuser sind inzwischen weiter ausgebaut und nur noch ganz wenige im Rebhuhnweg in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten. Der "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" errang hier zwar in den 50er und zu Beginn der 60er Jahre den höchsten Stimmenanteil in Wiesbaden, bei der Landtagswahl 1954 z.B. 17 %. Da ein Drittel der Einwohner Kohlhecks Flüchtlinge waren, hatte jedoch nur jeder zweite von ihnen den EHE gewählt.
SBZ-Flüchtlinge - Gesuchte Arbeitskräfte
Die Bemühungen des Bundes und der Länder zur Eingliederung der Vertriebenen in den 50er Jahren wurden dadurch erschwert, daß der Strom der Flüchtlinge nicht abriß: Neben den Aussiedlern aus den Vertreibungsgebieten füllten immer neue Flüchtlinge aus der SBZ die Flüchtlingslager und -Wohnheime. Ihre Unterbringung machte in Spitzenzeiten - wie nach dem 17. Juni 1953 oder vor dem Mauerbau 1961 - große Probleme, doch in der Regel fanden sie dank des raschen Wirtschaftswachstums seit 1951 schnell Arbeit und Unterkunft. Die Einstellung gegenüber den Flüchtlingen änderte sich entsprechend: aus "Schwarzgängern" wurden "SBZ-Flüchtlinge". Die Chance, als politischer Flüchtling anerkannt zu werden, stieg zwischen 1952 und 1961 von 40 auf über 90%. Damit verbunden war die Ausstellung des Flüchtlingsausweises C, mit dem man Anrecht auf bestimmte Förderungsmaßnahmen des Lastenausgleichsgesetzes erwarb. Die wirtschaftliche Eingliederung dieser Flüchtlinge fiel auch deshalb leicht, weil es sich überwiegend um qualifizierte junge Menschen handelte, die häufig Verwandte oder gute Bekannte in Hessen hatten, oder um Unternehmer, die ihre Flucht lange vorbereitet und realistische Pläne zur Neugründung ihrer Unternehmen hatten. Mit den jungen Flüchtlingen, die nicht bei Verwandten unterkommen konnten, taten sich die Flüchtlingsverwaltung und die Hilfsorganisationen schwer: Aufgrund ihrer Erfahrungen in der SBZ versuchten sie sich jeglicher auch noch so gut gemeinten Betreuung zu entziehen. Vor allem setzten sie sich schnell von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft ab, wo sie nach der Absicht der Flüchtlingsverwaltung langsam mit dem Leben in Westdeutschland vertraut gemacht werden sollten, und suchten sich auf eigene Faust in den Ballungsgebieten Arbeitsstellen.
Leistungsbereitschaft und Mobilität - Voraussetzungen der Integration
Viele Ziele des Hessenplans wurden erreicht: Bis Ende 1957 erhielten 114 000 Personen durch Umsiedlung Arbeitsplätze und Wohnungen. Außerdem konnten 9700 Familien bzw. 38 000 Personen Vollbauern- und Nebenerwerbsstellen oder ein Haus in einer Landarbeitersiedlung übernehmen. Insgesamt wurden so im Rahmen des Hessenplans fast 150000 Menschen umgesiedelt.
Anstatt der ursprünglich vorgesehenen 25 000 konnten sogar mehr als 100 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Eine Statistik der Lastenausgleichsbank bestätigt übrigens, daß der Hessenplan den Vertriebenen sehr genutzt hat: Mit den für die wirtschaftliche Eingliederung der Geschädigten zur Verfügung gestellten Beträgen - bemessen nach der Bevölkerungszahl und der Zahl der aufgenommenen Vertriebenen und Flüchtlinge - stand Hessen an der Spitze aller Bundesländer. Diese in nahezu 7000 Fällen gewährten Kredite und Landesbürgschaften haben nicht nur dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit unter den Flüchtlingen abzubauen, sondern auch vielen wieder zu einer neuen selbständigen Existenz verholfen. Dennoch konnten nicht alle ehemals Selbständigen wieder einen Betrieb gründen, und auch längst nicht alle früher in diesen Spezialindustrien Beschäftigten fanden wieder entsprechende Arbeit. Der Anteil der Flüchtlings- und Vertriebenenbetriebe an der Gesamtzahl der hessischen Handels-, Gewerbe- und Industriebetriebe lag um 1960 mit 14000 Betrieben bei 9% und damit weit unter dem entsprechenden Bevölkerungsanteil von 20%. Meist handelte es sich um kleinere und mittlere Betriebe, in denen insgesamt 80 000 - 90 000 Dauerarbeitsplätze entstanden sind. Die Flüchtlings- und Vertriebenenbetriebe haben den mittelständischen Charakter der hessischen Wirtschafte erheblich gestärkt.
Auch viele ehemals selbständige Handwerker mußten Zuflucht in unselbständiger Tätigkeit suchen. Selbständig machen konnten sich am ehesten Flüchtlinge in Gewerben, in denen man zur Einrichtung einer Werkstatt wenig Kapital brauchte, wie Schneider und Schuhmacher. Dort lag allerdings auch das Einkommen am niedrigsten. Dazu zählten auch charakteristische Spezialhandwerke des Sudetenlands wie Weber, Stricker, Wirker, Klöppler, Tuchmacher und Handschuhmacher. Die meisten Vertriebenen waren Arbeitnehmer im verarbeitenden Gewerbe.
Die Geschichte der wirtschaftlichen Leistung der Heimatvertriebenen ist noch ungeschrieben. Dennoch lassen sich zwei Rechnungen aufmachen. Auf der einen Seite haben sie enorme Mobilität, Anpassungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gezeigt und damit zum "Wirtschaftswunder" im Nachkriegsdeutschland beigetragen. Aus der Last des Wiederaufbaus konnten sie also auch Nutzen ziehen. Andererseits haben die Heimatvertriebenen -nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 1971 - bei allem Einsatz den Vorsprung der einheimischen Bevölkerung auch nach 25 Jahren noch nicht ganz einholen können. Hierin kommt zum Ausdruck, daß nicht alle eine befriedigende berufliche Tätigkeit fanden und vor allem alte Menschen kaum eine Chance zum Neuanfang hatten. Sieht man beide Bilanzen zusammen, so wird deutlich, daß die scheinbar schnelle wirtschaftliche Integration zwar äußerlich materielle Unterschiede abschliff, aber Anstrengungen erforderte, die die Vertriebenenfamilien prägten.
Im Grunde läßt sich die hessische Nachkriegspolitik als ein Sich-auf-einander-zu-Bewegen zwischen den Vertriebenen und ihren Verbänden sowie den Einheimischen und ihren Parteien und ihrer Regierung verstehen. Diese Bewegung kulminierte im Hessenplan.
Dazu gab es folgende günstige Voraussetzungen:
- eine Fremden gegenüber aufgeschlossenere kleinbäuerliche Bevölkerung auf dem Lande als z.B. in Bayern;
- fortschrittliche politische Traditionen im Lande und das Fehlen restaurativer Hessenideale, die der Finis bavariae-Ideologie vergleichbar wären, nach der alles Unglück in Bayern von Fremden kam;
- eine schon im Jahre 1946 beim Ringen um die Verfassung entstehende gegenseitige Akzeptanz zwischen SPD und CDU, die 1947 zu einer großen Koalition führte und verhinderte, daß sich beide Parteien bei der Flüchtlingsfrage auszuspielen versuchten, sondern gemeinsame Lösungen ermöglichte;
- die Bildung von Flüchtlingsorganisationen, die zunächst auf dem Lande erfolgte, wo die Sudetendeutschen lebten. Deshalb dominierte nicht sofort wie in Bayern in der Landeshauptstadt eine starke politische Vertretung, die die Gestaltung der Flüchtlingspolitik für sich beanspruchte, und es gab vergleichsweise wenig Konflikte unter den Flüchtlingsverbänden. Sie konnten so zu demokratisch legitimierten Partnern der Flüchtlingsverwaltung werden;
- eine kluge Politik Nahms, der durch Offenlegung aller Probleme sowohl das Vertrauen der Regierung und der unteren Verwaltung als auch der Flüchtlinge genoß, und mit gelegentlichen Rücktrittsdrohungen beide Seiten in Schach hielt;
- ein traditionelles Notstandsgebiet in Nordhessen, für das auch die einheimische Bevölkerung Unterstützungen forderte, sowie ein expandierendes Rhein-Main-Zentrum, das Arbeitsplätze bot;
- möglicherweise auch die Tatsache, daß die SPD, als sie 1950 allein regieren konnte, in den Augen der Flüchtlinge für die ihnen schleppend erscheinenden Eingliederungsbemühungen der christlich-demokratisch geführten Bundesregierung, insbesondere beim erst 1953 geregelten Lastenausgleich, weniger verantwortlich schien als die hessische CDU.
Hessenplan
Bis zur Währungsreform war die hohe Arbeitslosigkeit der Flüchtlinge verschleiert, weil die Landwirtschaft "einen erwünschten Unterschlupf gegen Kost und Wohnung und niedrigste Entlohnung" bot. Doch nach der Währungsreform zeigte sich die hohe Arbeitslosigkeit auf dem Lande: Harte Währung konnten und wollten die Bauern den Flüchtlingen für Hilfsarbeiten nicht bezahlen. Um die Arbeitslosigkeit auf dem Land zu bekämpfen, mußten also zusätzliche Arbeitsplätze in der Nähe der Wohnplätze der Vertriebenen geschaffen werden. Ein Schritt in diese Richtung war der 1949 begonnene Schlüchtern-Plan, den die Initiatoren, organisiert in dem sogenannten Ständigen Ausschuß für Selbsthilfe, als "soziales Experiment" bezeichneten. Dem Ausschuß gehörten Vertreter von Organisationen an, die dem Gedanken der Selbsthilfe ihre Entstehung und Bedeutung verdankten, wie z.B. Genossenschaften, Gewerkschaften, Sparkassen, Wohnungsämter und Wohlfahrtsverbände. Der Landrat des Kreises Schlüchtern, Jansen, stand diesem Experiment sehr aufgeschlossen gegenüber und unterstützte es tatkräftig. Es gelang in kurzer Zeit, 453 Dauerarbeitsplätze und 220 Wohnungen zu schaffen.
Der Schlüchternplan bestach durch die breite Mitarbeit von Bewohnern des Kreises. Vorschläge für neue Arbeitsplätze kamen von ansässigen Firmen; die Auswahl der Wohnungsbauvorhaben, meist steckengebliebene Bauten, erfolgte durch eine örtliche Kommission, und bei Flurbereinigungsverfahren zur Beschaffung von Gartenland, zur Eingliederung heimatvertriebener Landwirte und schließlich zur Verbesserung der Agrarstruktur des Kreises wirkten die einheimischen Bauern mit. Selbsthilfe - und das scheint ein Erfolgsgeheimnis des Schlüchternplanes - wurde hier nicht nur auf die Vertriebenen bezogen, sondern auf die gesamte Bevölkerung des Kreises. Eine grundlegende Voraussetzung für den Erfolg der Arbeit war freilich auch, daß jetzt im Rahmen des Soforthilfegesetzes von 1949 erstmals erhebliche öffentliche Mittel zur Verfügung standen.
Die überwiegend positiven Erfahrungen mit dem Schlüchternplan regten die hessische Regierung an, Abhilfe bei der Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit durch umfassende eigene Investitionen zu schaffen. Unterstützend wirkte sicher, daß der amerikanische Bankier Christian Sonne mit einem deutsch-amerikanischen Beraterstab, zu dem auch Nahm gehörte, im Jahr 1950 daranging, einen Bundesplan für die Eingliederung der Heimatvertriebenen zu entwerfen. Der Plan wurde zwar nicht realisiert, doch bot dieses Vorgehen Einblicke in Problemlösungen anderer Länder, lieferte Grunddaten und beflügelte insgesamt die planerische Phantasie. Gleichzeitig hatte Nahm in Zusammenarbeit mit dem Landesplanungsamt und dem Landesarbeitsamt "Die Grundgedanken des Hessenplans" erarbeitet, die Mitte September 1950 der Öffentlichkeit vorgelegt wurden. Die konkrete Ausformung trug Ministerpräsident Zinn in seiner Regierungserklärung vom 10. Januar 1951 vor.
Der Leitgedanke des Hessenplans war, entweder die Arbeit zu den auf dem Lande untergebrachten Heimatvertriebenen zu bringen oder in den Fällen, wo das nicht möglich war, die Menschen zur Arbeit zu bringen. Eine solche Maßnahme wurde um so dringender, weil Hessen im Rahmen der Bundesumsiedlung weitere Vertriebene aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen und Bayern aufnehmen sollte.
Die 1950 formulierten Planziele waren: erstens sollten 100 000 Menschen aus Gebieten mit hoher Arbeitslosigkeit in Gemeinden mit günstigerer Arbeitsmarktlage umgesiedelt werden, und zweitens sollten in den Notstandsgebieten 25 000 neue Arbeitsplätze für Vertriebene geschaffen werden. Drittens wurde angestrebt, 3000 landwirtschaftliche Siedlerstellen zu errichten.
Die Eingliederungshilfen für Flüchtlinge in den 1950er Jahren wurden insgesamt stark durch Maßnahmen des Bundes geprägt. Zu nennen sind hier vor allem das Soforthilfegesetz von 1949, das Bundesvertriebenen- und das Lastenausgleichsgesetz von 1953. Diese Gesetze haben für die wirtschaftliche Eingliederung der Vertriebenen und den sozialen Frieden in der Bundesrepublik eine enorme Bedeutung gehabt, und sie bildeten auch die finanzielle Grundlage für viele Fördermaßnahmen der Länder.
Musikinstrumentenbau und Glasindustrie
Besonders erfolgversprechend schien der Landesregierung die Förderung sudetendeutscher Spezialindustrien, die es bislang nicht oder kaum in Hessen gab, und die einen Großteil ihrer Produkte im Ausland verkaufen konnten. Zum einen waren diese Spezialhandwerker zunächst fast alle arbeitslos, und zum anderen opponierten die einheimischen Kammern nicht gegen die Unterstützung dieser Industrien. Um die Ansiedlung der Gablonzer und Haida-Steinschönauer Glasindustrie, der Graslitzer und Schönbacher Musikinstrumentenin-dustrie sowie der Schlesischen und Lausitzer Textilindustrie gab es Rivalitäten zwischen Bayern und Hessen und in Hessen sogar zwischen einzelnen Gemeinden.
Die Musikinstrumentenbauer aus Graslitz und Schönbach im Erzgebirge, dem "Musikwinkel", hatten sich in Hessen überwiegend im Raum Nauheim bei Groß-Gerau niedergelassen. Anfangs war für die Standortwahl entscheidend, ob sich in der Nähe der gerade zugewiesenen ersten Unterkunft geeignete Fabrikräume oder Werkstätten finden ließen. Gelegentlich, wie z.B. bei der Ansiedlung der Musikinstrumentenindustrie in Nauheim, ging auch die Initiative von einzelnen Bürgermeistern aus. Hier wurde zunächst in Abstellräumen, Waschküchen und Tanzsälen gearbeitet. Auch das Werkzeug wurde häufig selbst gebaut. Bereits 1946 hatten sich 13 Firmen in Nauheim niedergelassen. Sie beschäftigten 1950 über 400 Fachkräfte. Dazu gehörten so bekannte Firmen wie Sandner, Köstler und Keilwerth. (Dok. 28)
Die ehemals sudetendeutsche Haida-Steinschönauer Glasindustrie ist in Hessen weiter gestreut als die Musikinstrumentenindustrie. Ein Schwerpunkt liegt in Hadamar, aber auch in kleineren Orten finden sich namhafte Glaswerke, so z.B. in Stierstadt im Taunus, Löhnberg bei Weilburg und Hattersheim am Main sowie schließlich die berühmte Süßmuth-Hütte in Immenhausen im Kreis Hofgeismar. Die Streuung brachte Wettbewerbsnachteile mit sich: Nicht nur die Wege zu den Zulieferern waren länger als in der Heimat, sondern es war auch schwieriger, Fachkräfte zu gewinnen und Nachwuchs auszubilden. Deswegen gründete das Land Hessen 1949 in Hadamar eine Glasfachschule. Dort wurden auch viele Einheimische zu Glasmachern ausgebildet. Sie stellten bald ein Drittel der Beschäftigten. Gegen Ende der 50er Jahre umfaßte die hessische Glasindustrie 60 Betriebe mit fast 5000 Beschäftigten.
Eine Glasschleiferei hat sich auch auf dem Kohlheck in Wiesbaden angesiedelt, die Firma Karl Neubert aus Steinschönau. Karl Neubert erinnert sich noch genau an seine Überlegungen bei der Gründung des Betriebes. Als er in der Dotzheimer Straße für seine Familie ein Schlafzimmer und einen Hühnerstall mieten konnte, in dem sie sich eine Küche einrichten sollten, hatte er eine sofort eine Idee : "Da dachte ich: Küche muß nicht sein, mach 'ne Werkstatt rein.... Gegen Ende September bin ich hergekommen und am 2. Oktober haben wir schon geschliffen. Wir hatten damals keine Rohlinge, weil es in den ersten Jahren hier keine Glasfabrik gab. Mit dem Glas-Kahl war ich schon im Kriege gut bekannt. Der hat mir die ganzen Bruchscheiben aufgehoben, die Autoscheiben, die haben wir dann geschliffen und abends haben wir dann Holzfüße drangeschnitzt und da wurden sie verkauft: eine Platte gegen eine Packung Amizigaretten. Geraucht habe ich keine. Das brauchten wir ja alles zum Aufbau." (Dok. 29)
Textilindustrie
Noch weiter gestreut als die Glasindustrie ist die Textilindustrie, die vor allem aus Schlesien und der Lausitz nach Hessen kam. Neben größeren Zentren in Korbach und Arolsen war sie über ganz Hessen verteilt. Als erste Produktionsräume dienten häufig verfallene Fabrikgebäude, Lagerbaracken, Säle, Bunker oder - wie in Wiesbaden-Kohlheck - Kasernenanlagen. Im Textil- und Bekleidungsgewerbe arbeiteten gegen Ende der 50er Jahre ca. 7500 Personen in über 200 Flüchtlingsbetrieben. In der Textilindustrie war die Konkurrenz einheimischer Firmen sehr stark. (Dok. 29) Der Zwang, sich gegen einheimische Konkurrenz durchsetzen zu müssen, die bessere Beziehungen, einen höheren Eigenkapitalanteil und günstigere Standorte hatte, sowie die gemeinsam erlebten Schicksalsschläge führten dazu, daß einer für den anderen einstand. Daraus ergab sich offenbar ein Betriebsklima, das den Flüchtlingsbetrieben das Überleben ermöglichte. Die Gewerkschaften hatten es schwer, hier Fuß zu fassen.
Die vertriebenen Unternehmer wandten sich auf der Suche nach Produktionsräumen auch an staatliche Stellen, die früheres Wehrmachtsgelände als Industriegelände verpachteten. Dazu gehörten neben den bekannten Munitionsfabriken Allendorf und Hessisch-Lichtenau auch das Kriegsgefangenlager Trutzhain und die Industriehöfe Frankenberg und Wolfhagen. Gefangenen- und Fremdarbeiterbaracken boten erste Unterkunft für die Vertriebenen. In Allendorf, heute eine der größten Flüchtlingssiedlungen in der Bundesrepublik, konnten in den 50er Jahren 150 Industriebetriebe angesiedelt werden, die 7000 Arbeitsplätze boten. Der Arbeitsmarkt der Umgebung wurde dadurch stark entlastet. Bereits in den frühen 60er Jahren wurden zusätzlich ausländische Arbeiter angeworben und in Allendorf ansässig.
Heimatvertriebene Landwirte
Am schwierigsten war die Eingliederung der heimatvertriebenen Landwirte, weil es wenig verfügbares Land gab. In Hessen dominierte der bäuerliche Kleinbetrieb, dem man kein Land entziehen konnte, ohne seine Existenz zu gefährden, und den Großgrundbesitzern gelang es zumeist, die Durchführung der Bodenreform zu verhindern. So waren 1949 von fast 5000 heimatvertriebenen Bauern in Hessen rund 90% ohne eigenen Betrieb. Die meisten waren gezwungen, neue Berufe zu ergreifen, wobei sie oft beachtliches Geschick bewiesen. Bei Daimler in Stuttgart z.B. gehörten gerade heimatvertriebene Bauern schon bald zu der bei der Betriebsleitung angesehensten Facharbeiterschaft.
Ein Beispiel dafür, wie schwer es in dem dichtbesiedelten Hessen war, ungenutztes Land zu finden, ist die Siedlung für heimatvertriebene Landwirte in Lettgenbrunn im Spessart - heute ein idyllischer Ort, der 1947 aber einen Tiefpunkt seiner Wechsel vollen Geschichte erreicht hatte: Im Dreißigjährigen Krieg wurde Lettgenbrunn fast völlig zerstört und dann neu besiedelt. Gegen Ende des Kaiserreichs 1912 mußten die Bewohner einem Truppenübungsplatz weichen und wurden ausgesiedelt. Nach dem Ersten Weltkrieg erfolgte die zweite Neubesiedlung, u.a. mit ausgewiesenen Elsässern. 1935 wurde der Ort wieder geräumt und als Bombenabwurf-Übungsplatz dem Erdboden gleichgemacht. 1947 erfolgte die dritte Neubesiedlung mit heimatvertriebenen Bauern. (Dok. 30)
Hessische Flüchtlingssiedlungen
In Hessen entstanden keine großen Siedlungen nur für Vertriebene, sondern ganz überwiegend Siedlungen, in denen Einheimische und Vertriebene nebeneinander wohnen. Von Anfang an war es das Ziel der hessischen Flüchtlingspolitik zu verhindern, daß Flüchtlinge und Vertriebene in Ghettos leben mußten. Auch der Hessenplan trug diesem Grundsatz Rechnung, denn beim Wohnungsbau im Rahmen des Hessenplans konnten Kreise und Gemeinden einen Teil der Wohnungen für die einheimische Bevölkerung reservieren. So wurde der ursprüngliche Plan ergänzt um 1. das Sonderprogramm des sozialen Wohnungsbaus für den Wiederaufbau der Stadtkerne; 2. die Einbeziehung der Fliegergeschädigten und Evakuierten in die innere Umsiedlung; 3. die Schaffung von Schwerpunktwohnungen zur Unterbringung von industriellen Facharbeitern und Schlüsselkräften; 4. Maßnahmen zur sozialen Aufrüstung des Dorfes. So entwickelte sich der Hessenplan, der ursprünglich zur Eingliederung der Vertriebenen aufgestellt wurde, zu einem Landesentwicklungsplan.
Dennoch gibt es auch in Hessen einige bekannte größere Flüchtlings- und Vertriebenensied-lungen, die auf Grund besonderer Initiativen entstanden sind. Wiesbadens größte Vertriebe-nensiedlung - die Siedlung Kohlheck - gilt heute als ein "Schmuckstück auf der Höhe". (Dok. 31) Fast alle Siedlungshäuser sind inzwischen weiter ausgebaut und nur noch ganz wenige im Rebhuhnweg in ihrer ursprünglichen Gestalt erhalten. Der "Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten" errang hier zwar in den 50er und zu Beginn der 60er Jahre den höchsten Stimmenanteil in Wiesbaden, bei der Landtagswahl 1954 z.B. 17 %. Da ein Drittel der Einwohner Kohlhecks Flüchtlinge waren, hatte jedoch nur jeder zweite von ihnen den EHE gewählt.
SBZ-Flüchtlinge - Gesuchte Arbeitskräfte
Die Bemühungen des Bundes und der Länder zur Eingliederung der Vertriebenen in den 50er Jahren wurden dadurch erschwert, daß der Strom der Flüchtlinge nicht abriß: Neben den Aussiedlern aus den Vertreibungsgebieten füllten immer neue Flüchtlinge aus der SBZ die Flüchtlingslager und -Wohnheime. Ihre Unterbringung machte in Spitzenzeiten - wie nach dem 17. Juni 1953 oder vor dem Mauerbau 1961 - große Probleme, doch in der Regel fanden sie dank des raschen Wirtschaftswachstums seit 1951 schnell Arbeit und Unterkunft. Die Einstellung gegenüber den Flüchtlingen änderte sich entsprechend: aus "Schwarzgängern" wurden "SBZ-Flüchtlinge". Die Chance, als politischer Flüchtling anerkannt zu werden, stieg zwischen 1952 und 1961 von 40 auf über 90%. Damit verbunden war die Ausstellung des Flüchtlingsausweises C, mit dem man Anrecht auf bestimmte Förderungsmaßnahmen des Lastenausgleichsgesetzes erwarb. Die wirtschaftliche Eingliederung dieser Flüchtlinge fiel auch deshalb leicht, weil es sich überwiegend um qualifizierte junge Menschen handelte, die häufig Verwandte oder gute Bekannte in Hessen hatten, oder um Unternehmer, die ihre Flucht lange vorbereitet und realistische Pläne zur Neugründung ihrer Unternehmen hatten. Mit den jungen Flüchtlingen, die nicht bei Verwandten unterkommen konnten, taten sich die Flüchtlingsverwaltung und die Hilfsorganisationen schwer: Aufgrund ihrer Erfahrungen in der SBZ versuchten sie sich jeglicher auch noch so gut gemeinten Betreuung zu entziehen. Vor allem setzten sie sich schnell von Arbeitsplätzen in der Landwirtschaft ab, wo sie nach der Absicht der Flüchtlingsverwaltung langsam mit dem Leben in Westdeutschland vertraut gemacht werden sollten, und suchten sich auf eigene Faust in den Ballungsgebieten Arbeitsstellen.
Leistungsbereitschaft und Mobilität - Voraussetzungen der Integration
Viele Ziele des Hessenplans wurden erreicht: Bis Ende 1957 erhielten 114 000 Personen durch Umsiedlung Arbeitsplätze und Wohnungen. Außerdem konnten 9700 Familien bzw. 38 000 Personen Vollbauern- und Nebenerwerbsstellen oder ein Haus in einer Landarbeitersiedlung übernehmen. Insgesamt wurden so im Rahmen des Hessenplans fast 150000 Menschen umgesiedelt.
Anstatt der ursprünglich vorgesehenen 25 000 konnten sogar mehr als 100 000 Arbeitsplätze geschaffen werden. Eine Statistik der Lastenausgleichsbank bestätigt übrigens, daß der Hessenplan den Vertriebenen sehr genutzt hat: Mit den für die wirtschaftliche Eingliederung der Geschädigten zur Verfügung gestellten Beträgen - bemessen nach der Bevölkerungszahl und der Zahl der aufgenommenen Vertriebenen und Flüchtlinge - stand Hessen an der Spitze aller Bundesländer. Diese in nahezu 7000 Fällen gewährten Kredite und Landesbürgschaften haben nicht nur dazu beigetragen, die Arbeitslosigkeit unter den Flüchtlingen abzubauen, sondern auch vielen wieder zu einer neuen selbständigen Existenz verholfen. Dennoch konnten nicht alle ehemals Selbständigen wieder einen Betrieb gründen, und auch längst nicht alle früher in diesen Spezialindustrien Beschäftigten fanden wieder entsprechende Arbeit. Der Anteil der Flüchtlings- und Vertriebenenbetriebe an der Gesamtzahl der hessischen Handels-, Gewerbe- und Industriebetriebe lag um 1960 mit 14000 Betrieben bei 9% und damit weit unter dem entsprechenden Bevölkerungsanteil von 20%. Meist handelte es sich um kleinere und mittlere Betriebe, in denen insgesamt 80 000 - 90 000 Dauerarbeitsplätze entstanden sind. Die Flüchtlings- und Vertriebenenbetriebe haben den mittelständischen Charakter der hessischen Wirtschafte erheblich gestärkt.
Auch viele ehemals selbständige Handwerker mußten Zuflucht in unselbständiger Tätigkeit suchen. Selbständig machen konnten sich am ehesten Flüchtlinge in Gewerben, in denen man zur Einrichtung einer Werkstatt wenig Kapital brauchte, wie Schneider und Schuhmacher. Dort lag allerdings auch das Einkommen am niedrigsten. Dazu zählten auch charakteristische Spezialhandwerke des Sudetenlands wie Weber, Stricker, Wirker, Klöppler, Tuchmacher und Handschuhmacher. Die meisten Vertriebenen waren Arbeitnehmer im verarbeitenden Gewerbe.
Die Geschichte der wirtschaftlichen Leistung der Heimatvertriebenen ist noch ungeschrieben. Dennoch lassen sich zwei Rechnungen aufmachen. Auf der einen Seite haben sie enorme Mobilität, Anpassungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft gezeigt und damit zum "Wirtschaftswunder" im Nachkriegsdeutschland beigetragen. Aus der Last des Wiederaufbaus konnten sie also auch Nutzen ziehen. Andererseits haben die Heimatvertriebenen -nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahre 1971 - bei allem Einsatz den Vorsprung der einheimischen Bevölkerung auch nach 25 Jahren noch nicht ganz einholen können. Hierin kommt zum Ausdruck, daß nicht alle eine befriedigende berufliche Tätigkeit fanden und vor allem alte Menschen kaum eine Chance zum Neuanfang hatten. Sieht man beide Bilanzen zusammen, so wird deutlich, daß die scheinbar schnelle wirtschaftliche Integration zwar äußerlich materielle Unterschiede abschliff, aber Anstrengungen erforderte, die die Vertriebenenfamilien prägten.
Im Grunde läßt sich die hessische Nachkriegspolitik als ein Sich-auf-einander-zu-Bewegen zwischen den Vertriebenen und ihren Verbänden sowie den Einheimischen und ihren Parteien und ihrer Regierung verstehen. Diese Bewegung kulminierte im Hessenplan.
Dazu gab es folgende günstige Voraussetzungen:
- eine Fremden gegenüber aufgeschlossenere kleinbäuerliche Bevölkerung auf dem Lande als z.B. in Bayern;
- fortschrittliche politische Traditionen im Lande und das Fehlen restaurativer Hessenideale, die der Finis bavariae-Ideologie vergleichbar wären, nach der alles Unglück in Bayern von Fremden kam;
- eine schon im Jahre 1946 beim Ringen um die Verfassung entstehende gegenseitige Akzeptanz zwischen SPD und CDU, die 1947 zu einer großen Koalition führte und verhinderte, daß sich beide Parteien bei der Flüchtlingsfrage auszuspielen versuchten, sondern gemeinsame Lösungen ermöglichte;
- die Bildung von Flüchtlingsorganisationen, die zunächst auf dem Lande erfolgte, wo die Sudetendeutschen lebten. Deshalb dominierte nicht sofort wie in Bayern in der Landeshauptstadt eine starke politische Vertretung, die die Gestaltung der Flüchtlingspolitik für sich beanspruchte, und es gab vergleichsweise wenig Konflikte unter den Flüchtlingsverbänden. Sie konnten so zu demokratisch legitimierten Partnern der Flüchtlingsverwaltung werden;
- eine kluge Politik Nahms, der durch Offenlegung aller Probleme sowohl das Vertrauen der Regierung und der unteren Verwaltung als auch der Flüchtlinge genoß, und mit gelegentlichen Rücktrittsdrohungen beide Seiten in Schach hielt;
- ein traditionelles Notstandsgebiet in Nordhessen, für das auch die einheimische Bevölkerung Unterstützungen forderte, sowie ein expandierendes Rhein-Main-Zentrum, das Arbeitsplätze bot;
- möglicherweise auch die Tatsache, daß die SPD, als sie 1950 allein regieren konnte, in den Augen der Flüchtlinge für die ihnen schleppend erscheinenden Eingliederungsbemühungen der christlich-demokratisch geführten Bundesregierung, insbesondere beim erst 1953 geregelten Lastenausgleich, weniger verantwortlich schien als die hessische CDU.
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