2. Erste Unterbringung
II. Erste Unterbringung
Nahrungsmangel, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit
Wie stark die Not das Leben aller Deutschen bestimmte, ist heute vielen kaum noch vorstellbar. Die ersten drei Nachkriegsjahre bis zur Währungsreform waren die schlimmste Zeit. Es mangelte an Nahrungsmitteln, unter anderem weil die deutschen Ostgebiete, die traditionellen "Kornkammern", besetzt waren und es in den westlichen Zonen viel zu wenig Saatgut und Düngemittel gab. Bis zum Ende des Krieges hatte das strenge Verteilungs- und Rationierungssystem der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft vieles überdecken können. Nun blühte ein ziemlich ungehemmter Schwarzmarkt auf.
Nur 1000 Kalorien je Person konnten täglich in Hessen erwirtschaftet werden. Mit den Lieferungen anderer Länder kam der "Normalverbraucher" auf 1500 Kalorien täglich - lediglich eine Hungerration, wenn man bedenkt, wie schwer viele Menschen beispielsweise beim Aufräumen der zerbombten Städte arbeiten mußten. Das Wort "Rationierung" und Lebensmittel auf Marken gehörten zum täglichen Leben. Und selbst wer Marken hatte, konnte nicht sicher sein, das darauf Ausgewiesene auch tatsächlich zu erhalten. Es fehlte vor allem an Fett und Fleisch. In der Küche galt es, sich mit neuen und nicht unbedingt beliebten Produkten auseinanderzusetzen, wie weißen und gelben Trockenkartoffeln, deren Zubereitung Phantasie und Geduld verlangte. Zigaretten wurden damals zu einer "Nebenwährung" und das "Hamstern" auf dem Lande zu einer notwendigen Nebenbeschäftigung für viele Städter.
Der Wohnraum war knapp - nicht nur in den zerbombten Städten, auch auf dem Lande. Denn in ländliche, von der Zerstörung durch den Krieg weniger bedrohte Gebiete waren bis 1945 zahlreiche Menschen aus den Großstädten evakuiert worden. Wer nicht auf eigene Faust bei Verwandten oder Bekannten Unterschlupf fand, konnte nur auf die amtlichen Einweisungen vertrauen. Aber nicht alle Menschen waren bereit, Fremde in ihren vier Wänden aufzunehmen, und sie versuchten deshalb, ihre wahre Quadratmeterzahl zu verschleiern. Mußten sich - statistisch gesehen- im Herbst 1945 bereits 1,46 Personen einen Raum teilen, so waren es ein Jahr später schon 1,75 Menschen. Neben der problematischen Enge belastete der Energiemangel das Leben. Statt mit Steinkohle zu heizen, mußten Braunkohle und Holz verfeuert werden. Strom und Gas gab es vielfach nur für wenige Stunden am Tag.
Ein realistisches Bild vom Arbeitsmarkt jener Zeit können die offiziellen Statistiken nur schwer zeichnen. So waren im Oktober 1946 in Hessen bei den Ämtern 90 345 Personen als arbeitslos registriert. Die Volkszählung im selben Monat ergab allerdings, daß 170 300 Leute nach einer Beschäftigung suchten. Den l 706 000 am Stichtag gezählten Erwerbstätigen gegenübergestellt, bedeutete dies eine Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg in den ersten Jahren nach dem Krieg ständig, doch waren daran Zweige wie die Bauwirtschaft überdurchschnittlich beteiligt. Etliche, die keinen Arbeitsplatz fanden oder sich vor einem Einsatz in einem anderen Beruf als dem gelernten fürchteten, verlegten sich auf oft lukrative Schwarzmarktgeschäfte oder überstanden die Zeit bis zur Währungsreform mit Hilfe ihrer Ersparnisse aus der inflationären Kriegszeit. Außerdem fanden zahlreiche Menschen eine vorübergehende Beschäftigung in der Landwirtschaft, die ihnen zumindest das "tägliche Brot" sicherte. Wer eine Stelle hatte oder dringend suchte, mußte sich meist mit einem sehr viel geringeren Einkommen als vor dem Krieg zufriedengeben: Zusammen mit dem Preisanstieg verteuerte das die Lebenshaltung für die Menschen um rund 50 %.
Vorbereitungen in der Verwaltung
Ende Oktober 1945 hatte die amerikanische Militärregierung angekündigt, daß im Laufe des folgenden Jahres 600 000 Flüchtlinge und Vertriebene nach Hessen kämen und daß deren Aufnahme Sache der deutschen Behörden sei. Die Aufnahme habe ohne lange Lageraufenthalte zu erfolgen, und die Flüchtlinge seien vollständig zu integrieren.
Für die hessische Regierung kam damit ein weiteres kaum zu bewältigendes Problem hinzu, war doch das Land Groß-Hessen kaum gegründet und der von der Militärregierung eingesetzte Ministerpräsident Geiler erst wenige Tage im Amt.
Nach der Ankündigung der bevorstehenden Ankunft von 600 000 Menschen aus dem Osten und Südosten durch die Militärregierung erging bereits am 25. Oktober 1945 ein Erlaß der hessischen Regierung an die Regierungspräsidenten mit ersten Anweisungen zur Aufnahme der Vertriebenen, und am 27. Oktober wurde die Stelle eines Staatsbeauftragten für das Flüchtlingswesen besetzt, da die Aufgabe die herkömmliche Verwaltung überforderte. (Dok. 4) Dieses schwere Amt übernahm Walter Mann, der der KPD nahestand. Er war zuvor Soldat (Oberfeldwebel), nach Kriegsende für die Bunkerfürsorge der Stadt Frankfurt zuständig gewesen und übrigens der am frühesten ernannte Staatsbeauftragte in der amerikanischen Zone. Sein Chef war der Minister für Arbeit und Wohlfahrt, der kommunistische Widerstandskämpfer Oskar Müller. Für ihn stand von Anfang an fest, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen nicht in ihre Heimat würden zurückkehren können. Deshalb suchte man bei der ersten Unterbringung schon günstige Ausgangspositionen für die Zukunft zu schaffen: Lager auf enthalte sollten so kurz wie möglich gehalten werden und die Unterbringung in Privatquartieren sofort nach der Ankunft im Aufnahmeort erfolgen. In Zusammenarbeit mit dem Landesarbeitsamt bemühte man sich, die Flüchtlinge dort unterzubringen, wo sie auch Arbeit finden konnten.
Die Kompetenzen des Staatsbeauftragten mußten allerdings noch sehr begrenzt bleiben, weil für die neue Behörde ein Unterbau auf Bezirks- und Kreisebene nicht so schnell geschaffen werden konnte. Somit hing viel vom guten Willen der Landräte und Bürgermeister ab. Laut Erlaß vom 25. Oktober wurde bei jedem Landratsamt ein besonderer Flüchtlingsfürsorgeausschuß gebildet, dem zumindest verantwortliche Mitglieder für folgende neun Sachgebiete angehören sollten: Unterbringung, Verpflegung, Bekleidung, Gesundheitsbetreuung, berufsmäßige Erfassung und Arbeitseinteilung, statistische Erfassung, Transport, kulturelle und soziale Betreuung. Die kulturelle Betreuung sollte in den Flüchtlingen den Willen zur allgemeinen Aufbauarbeit und zur positiven Mitarbeit wecken und stärken und insbesondere der Jugend und den Kindern eine positive Ausrichtung geben. Die verantwortlichen Mitarbeiter übten ihre Arbeit ehrenamtlich aus.
Bei der Aufnahme der ersten Transporte zeigte die einheimische Bevölkerung viel guten Willen. Als die Transporte im Frühjahr 1946 aber nicht weniger wurden, sondern ständig wuchsen, ließ sich das Problem mit gutem Willen und Improvisation allein nicht mehr regeln. In dieser Zeit wurde eine neue gesetzliche Grundlage erarbeitet: die Verordnung über den Fluchtlingsdienst. Die am 23. März 1946 in Kraft gesetzte Regelung stärkte das Kommissariatswesen. Aus dem Staatsbeauftragten wurde ein Staatskommissar, dem hauptamtliche Bezirks- und KreisflüchtUngskommissare unterstanden. So sollte eine Sonderverwaltung entstehen, die den Regierungspräsidenten und Landräten in Flüchtlingsfragen nicht unterstellt war. Die Aufgaben des Flüchtlingsdienstes waren:
a) Ausstellung der Flüchtlingsausweise,
b) Erfassung der Flüchtlinge,
c) Beförderung zum Zielort,
d) Beschaffung einer Unterkunft am Aufnahmeort,
e) Rat und Hilfe bei Begründung einer Lebensgrundlage,
f) Gewährung von Fürsorgeleistungen bis zur Erlangung einer Lebensgrundlage.
Dem zuständigen Minister genügte die Erweiterung der Kompetenzen nicht. Die Landräte dagegen lehnten eine Flüchtlingssonderverwaltung mit einem von ihnen unabhängigen Kommissarsapparat ab, sondern wollten die Flüchtlingsfrage ohne Anweisungen von oben selbständig regeln. In der täglichen Arbeit spielten solche Meinungsunterschiede indes keine Rolle, weil die Flüchtlingskommissare auf die Mitarbeit der Landräte angewiesen waren und deshalb, wenn sie Erfolg haben wollten, nicht auf Weisungsbefugnis pochen konnten.
Im Auffanglager
Die Transportzüge wurden von den bayerischen Grenzauffangstellen nicht unmittelbar in hessische Landgemeinden gelenkt, sondern wurden nach Weisung eines hessischen Transportkommissars, der sein Büro in München hatte, zu bestimmten Auffangbahnhöfen in den Regierungsbezirken weitergeleitet. In den drei Regierungsbezirken gab es jeweils mehrere solcher Stationen. Eine davon war Sandbach i.O., wo für die Unterbringung ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager der dortigen Gummiwerke diente. Neben Sandbach wurden im Regierungsbezirk Darmstadt in Gießen, Lauterbach und Dieburg Auffangstationen eingerichtet. Im Regierungsbezirk Wiesbaden waren Bad Homburg (für die Kreise Bad Homburg und Usingen), Weilburg (für die Kreise Weilburg, Limburg und Bad Schwalbach), Herborn (für die Kreise Dillenburg und Biedenkopf) und Schlüchtern (für die Kreise Gelnhausen, Hanau/Land, Frankfurt/Höchst und Rüdesheim) die Stationen. Als die Zahl der Transporte immer mehr wuchs, mußten weitere Nebenlager eingerichtet werden. Von Juni 1946 an wurden auf den Bahnhof in Biedenkopf Transporte aus Ungarn geleitet.
Zur Begrüßung der Flüchtlinge wurde ein Flugblatt verteilt, das in herzlichem Ton die Vertriebenen ansprach, sie als Opfer nationalsozialistischer Machtpolitk bezeichnete und die Grundpositionen der hessischen Landesregierung darlegte. Klar ausgedrückt wurde, daß die hessische Regierung von einer dauernden Eingliederung ausging. (Dok. 5 ) Bei der Betreuung der Vertriebenen auf diesen "Drehscheiben" haben freiwillige Helfer viel geleistet. Die Züge wurden von Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes empfangen. Auch wenn ein Zug spätabends einlief, gelang es meist schnell, 30 bis 40 einheimische Helfer zusammenzurufen. In den Auffangstationen wurden die Flüchtlinge registriert und ärztlich untersucht. Schließlich wurden unter Berücksichtigung des Berufs und der Konfession neue Transporte in bestimmte Orte oder in Kreisflüchtlingslager zusammengestellt.
Im Kreisflüchtlingslager
Die Transporte folgten zum Teil so schnell aufeinander, daß die Vertriebenen von den Auffangstationen aus nicht immer direkt in einzelnen Ortschaften in Privatquartieren untergebracht werden konnten. Deshalb mußten die Landkreise Zwischenunterkünfte schaffen. Neben einem Hauptlager wurden oft noch Nebenlager eingerichtet. Als Aufenthaltsdauer waren ca. 4 - 6 Tage vorgesehen. Am ersten Tag wurden die Flüchtlinge entlaust, am zweiten ärztlich untersucht und am dritten registriert. In den folgenden Tagen wurden sie in ihre Aufnahmeorte gebracht, meist mit der Bahn oder einem Lastwagen. Auch in den Kreisen unterstützten freiwillige Helfer von Hilfsorganisationen die Lagerverwaltung. Es gab allerdings auch längere Lageraufenthalte, wenn kein freier Wohnraum mehr zu finden war.
Hessische Flüchtlingslager
Hessen erntete in zeitgenössischen Berichten Lob dafür, daß Flüchtlinge hier nicht jahrelang in Lagern leben mußten. Nach einem Bericht des Landesflüchtlingsamtes waren gegen Ende des Jahres 1947 nur ca. 2200 Flüchtlinge in Lagern untergebracht; berücksichtigt man, daß im Jahr 1946 rund 400 000 Vertriebene nach Hessen gekommen waren, so war dies eine erstaunliche Leistung. Doch auch in Hessen gelang es nicht immer, längere Lageraufenthalte zu vermeiden.
Wie belastend das Leben in Lagern war, die keine Privatheit erlaubten, schildert der heimatvertriebene Volkskundler Alfred Karasek-Langer:
"Symbol dafür ist der Kreidestrich, sind die gelegten Ziegelsteine, welche die Wohnfläche einzelner Familien gegenüber den Nachbarn markieren sollen. Dasselbe besagen die Schein-Wände aus Packpapier, Pappendeckel oder Wolldecken, die man hinhängt, um wenigstens blickmäßig allein zu sein. Jedermann ist durch das gemeinsame Hausen, den Essensempfang, die Teilhabe an Tisch, Stuhl, Ofen und Licht unablässig der Gruppe ausgeliefert, muß mit ihr denken und handeln, ob er will oder nicht. Dazu kommen weitere Belastungen. Auch die Bewertung der Lagerinsassen durch die Umwelt ist kollektiv gebunden: der Einzelne wird nach dem Ganzen beurteilt und nicht nach seinem persönlichen Verhalten."
Einweisung in Privatquartiere in Wiesbaden und auf dem Lande
Von den Durchgangs- oder Kreisflüchtlingslagern aus wurden die Flüchtlinge in die einzelnen Gemeinden gebracht und dort im günstigsten Fall direkt in Privatquartieren aufgenommen oder aber, wenn sie weniger Glück hatten und für sie noch kein Quartier gefunden war, vorübergehend in Turnhallen, Sälen oder stillgelegten Fabriken untergebracht. Da es kaum leerstehende Wohnungen gab, mußten die Heimatvertriebenen im Rahmen der damals üblichen Wohnungszwangswirtschaft in Häuser und Wohnungen von Einheimischen eingewiesen werden. Nicht selten aber haben Einheimische ankommende Flüchtlinge auch spontan bei sich aufgenommen.
Fremde in der eigenen Wohnung auf unabsehbare Zeit aufzunehmen, fällt sicherlich immer schwer. Um so schwieriger war es nach Kriegsende, als es an Wohnraum und Nahrung fehlte. Flüchtlingsunterkünfte in den Städten zu finden, war besonders schwierig, da hier die Bombenschäden verheerend waren. Frankfurt, Kassel und Darmstadt hatte es in Hessen am schwersten getroffen: Nur noch jede vierte Wohnung war tatsächlich bewohnbar. Die Verwaltungen versuchten den Zuzug mit strengen Regelungen zu begrenzen. Bevorzugt wurden Menschen, deren Beruf in den Städten gebraucht wurde. Wiesbaden gehörte an sich zu den weniger zerstörten Städten: Nur 25% der Wohnungen waren durch den Bombenkrieg zerstört oder beschädigt. Gleichwohl lassen sich auch typische Interessenkonflikte deutlich machen. (Dok. 6) In die heil gebliebenen Wohnungen strömten nicht nur Wiesbadener zurück, die während des Bombenkriegs evakuiert waren. Auch die amerikanische Militärregierung und - da Wiesbaden im Oktober 1945 hessische Landeshauptstadt geworden war - auch die Ministerien und Landesbehörden benötigten Wohnraum für ihre Angestellten.
Ein Teil der Bürgerschaft wünschte die Wiederbelebung als "Weltkurstadt", ein anderer sah neue Chancen in der Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen und Verlagen und Teilen der Filmindustrie, die von ihren Standorten in der sowjetisch besetzten Zone an den Rhein strebten. Dies konnte ebenfalls nur gelingen, wenn die Stadt für Mitarbeiter solcher Firmen Wohnraum zur Verfügung stellen konnte. Wiesbaden mußte zwar auch Vertriebene aufnehmen, aber weit weniger als ursprünglich vorgesehen waren. Allem durch die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten, die sich noch auf eigene Faust ihren Wohnort suchen konnten und nach Wiesbaden kamen, hatte die Stadt ihr ursprüngliches Soll von 15 000 schon im Sommer 1946 erreicht. Insgesamt kamen 1946 nur vier größere Transporte, meist aus Teplitz-Schönau (Sudetenland), und eine Reihe kleinerer Transporte, die zusammen aber noch nicht 2000 Flüchtlinge ausmachten, nach Wiesbaden; rund 500 von ihnen waren von der tschechischen Regierung als "Antifaschisten" anerkannt worden. Deshalb durften sie ihre Möbel mitnehmen. Auch nach dem Ende der Ausweisungen stieg die Zahl der Flüchtlinge ständig an, so daß im Jahr 1950 etwa 25 000 Flüchtlinge in Wiesbaden lebten, was rund 10 % der Bevölkerung entsprach.
Wegen der prekären Wohnungssituation in den Städten wurden die Vertriebenen ganz überwiegend auf dem Land untergebracht. Ein anschaulicher Bericht darüber, wie sich die Aufnahme auf dem Lande vollzog, findet sich in den Erinnerungen einer Frau, die als 14jähriges Mädchen nach Hessen kam. Mit ihren Eltern und 15 weiteren Familien wurde sie vom Auffanglager Villmar mit Lastwagen nach Eisenbach (Kreis Limburg) gebracht:
"Eisenbach zeigte uns in jenen Oktobertagen 1946 kern freundliches Bild. Tagelanger Regen hatte die Straßen und Wege aufgeweicht, naßkalter Nieselregen aus einem endlos grauen Himmel begleitete unsere ersten Schritte in dem Dörfchen, das von nun an unsere "neue Heimat" war. Im Saalbau Gattinger hatte man rings um die Wände Stroh aufgeschüttet, wo wir unser Lager bezogen. Koffer, Taschen und Rucksäcke, unser ganzer Besitz, standen in einer Ecke zusammen. Bürgermeister Willi Köhler begrüßte die Neuangekommenen mit dem Versprechen, uns baldmöglichst in Wohnungen einzuweisen. Er weckte Vertrauen in den leidgeprüften Menschen, wenngleich es allen klar war, daß man als einer der letzten Transporte nur noch wenig Auswahl an Wohnungen haben würde. Um die vollständige Mittellosigkeit der ersten Tage zu überbrücken, wurden wir zu Eisenbacher Familien zum Mittagessen und zum Abendbrot eingeteilt. Der Ortsdiener verteilte ein wenig ruppig die Adressen. So gingen wir zweimal täglich in die Adolfstraße zu Familie Gattinger, die uns freundlich bewirtete."
Die fünfköpfige Familie erhielt nach einer knappen Woche ein etwa 12 qm großes Zimmer im Obergeschoß ohne Wasseranschluß mit angrenzender schmaler Kammer. Nachbarn stellten einen Tisch und zwei Stühle zur Verfügung, die Gemeinde Feldbetten und die Vermieterin einen kleinen Kanonenofen.
"Das Thermometer sank auf sibirische Temperaturen, und es gab weder Kohle, Briketts noch Brennholz. In dem kleinen Nadelwäldchen an der Straße zur "Rücker-Hütte" durfte mein Vater mit anderen Flüchtlingsmännern ein paar Stangen fällen. Das Holz reichte kaum 14 Tage. So blieb nur der tägliche Gang in den Wald, wo man Tannenzapfen, dünne Äste und totes Holz lesen konnte.
Zur Kälte kam der Hunger. Auch hier war der späte Zeitpunkt unserer Ankunft ein schwerer Nachteil. Das Ährenlesen, das "Stoppeln" der Kartoffeln, war längst vorüber, das Obst geerntet. Kein noch so kleiner Apfel lag mehr unter den mächtigen Bäumen im Langgraben, Hundsgraben oder an der "Hessenstraße". Auch die Saison für Beeren und Pilze war vorbei. Die auf Marken zugeteilten Nahrungsmittel waren nicht zum Leben und nicht zum Sterben."
Doch nicht selten gab es auch Konflikte bei der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen auf dem Lande, wo eine Schicksalsgemeinschaft, die alles verloren hatte, auf eine andere Gemeinschaft traf, die häufig nur wenig verloren hatte. (Dok. 7) Der Arbeitsminister nannte in seinem Bericht über den Flüchtlingsdienst in Groß-Hessen vom 18. November 1946 offen Probleme bei der Wohnungszuteilung, der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs und bei der Zulassung von Vertriebenenbetrieben. Dadurch seien oft "Zuspitzungen, ja Klüfte" zwischen Neu- und Altbürgern entstanden. Die Ursachen sah der Minister darin, "daß bislang keine uneingeschränkt bevollmächtigte staatliche Zentralstelle des Flüchtlingsdienstes bestand, die in ihren Koordinierungsbefugnissen in der Lage gewesen wäre, auch die Ministerien in unmißverständlicher Weise bei allen Dispositionen auf die aus dem Flüchtlingsproblem sich ergebenden Notwendigkeiten auszurichten." Die wahre Ursache war aber sicherlich die Not, in der diese große Aufgabe bewältigt werden mußte. Ob sie auf kommissarischem Wege wirklich besser gelöst worden wäre, ist zweifelhaft.
Das zeigt ein Vergleich mit Bayern, wo die Flüchtlingskommissare mehr Kompetenzen hatten. Bayern gehörte ebenfalls zur amerikanischen Zone und hatte deshalb von der Besatzungsmacht dieselben Vorgaben wie Hessen. Auch in Bayern wurden die Vertriebenen in die vom Krieg wenig zerstörten alten Notstandsgebiete im Nordosten gelenkt, wo Arbeitsplätze rar waren. Doch die Unterbringung gestaltete sich hier sehr schwierig. Trotz Androhung hoher Geld- und Haftstrafen weigerten sich viele Landbewohner erfolgreich, Flüchtlinge aufzunehmen. Besitz und lokales Prestige erhöhten die Chancen, keinen Flüchtling aufnehmen zu müssen. So mußten in Bayern Ende Oktober 1946 fast 150 000 Vertriebene in 1375 Lagern leben, und es gelang wegen der nachfolgenden illegalen Grenzgänger bis 1950 nicht, die Lager abzubauen. In Hessen dagegen konnten die Vertriebenen leichter bei der einheimischen Bevölkerung untergebracht werden. Meinungsumfragen der Besatzungsmacht unterstreichen dieses Bild. Im März 1947 waren 61% der Flüchtlinge in Hessen zufrieden mit der Behandlung seitens der einheimischen Bevölkerung, in Bayern hingegen nur 37%. Ein Grund liegt vermutlich auch darin, daß in Hessen ein offeneres soziales Klima herrschte und die kleinbäuerliche Bevölkerung vielfach Mitleid hatte und offenbar eher zu solidarischem Handeln fähig war.
Nahrungsmangel, Wohnungsnot, Arbeitslosigkeit
Wie stark die Not das Leben aller Deutschen bestimmte, ist heute vielen kaum noch vorstellbar. Die ersten drei Nachkriegsjahre bis zur Währungsreform waren die schlimmste Zeit. Es mangelte an Nahrungsmitteln, unter anderem weil die deutschen Ostgebiete, die traditionellen "Kornkammern", besetzt waren und es in den westlichen Zonen viel zu wenig Saatgut und Düngemittel gab. Bis zum Ende des Krieges hatte das strenge Verteilungs- und Rationierungssystem der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft vieles überdecken können. Nun blühte ein ziemlich ungehemmter Schwarzmarkt auf.
Nur 1000 Kalorien je Person konnten täglich in Hessen erwirtschaftet werden. Mit den Lieferungen anderer Länder kam der "Normalverbraucher" auf 1500 Kalorien täglich - lediglich eine Hungerration, wenn man bedenkt, wie schwer viele Menschen beispielsweise beim Aufräumen der zerbombten Städte arbeiten mußten. Das Wort "Rationierung" und Lebensmittel auf Marken gehörten zum täglichen Leben. Und selbst wer Marken hatte, konnte nicht sicher sein, das darauf Ausgewiesene auch tatsächlich zu erhalten. Es fehlte vor allem an Fett und Fleisch. In der Küche galt es, sich mit neuen und nicht unbedingt beliebten Produkten auseinanderzusetzen, wie weißen und gelben Trockenkartoffeln, deren Zubereitung Phantasie und Geduld verlangte. Zigaretten wurden damals zu einer "Nebenwährung" und das "Hamstern" auf dem Lande zu einer notwendigen Nebenbeschäftigung für viele Städter.
Der Wohnraum war knapp - nicht nur in den zerbombten Städten, auch auf dem Lande. Denn in ländliche, von der Zerstörung durch den Krieg weniger bedrohte Gebiete waren bis 1945 zahlreiche Menschen aus den Großstädten evakuiert worden. Wer nicht auf eigene Faust bei Verwandten oder Bekannten Unterschlupf fand, konnte nur auf die amtlichen Einweisungen vertrauen. Aber nicht alle Menschen waren bereit, Fremde in ihren vier Wänden aufzunehmen, und sie versuchten deshalb, ihre wahre Quadratmeterzahl zu verschleiern. Mußten sich - statistisch gesehen- im Herbst 1945 bereits 1,46 Personen einen Raum teilen, so waren es ein Jahr später schon 1,75 Menschen. Neben der problematischen Enge belastete der Energiemangel das Leben. Statt mit Steinkohle zu heizen, mußten Braunkohle und Holz verfeuert werden. Strom und Gas gab es vielfach nur für wenige Stunden am Tag.
Ein realistisches Bild vom Arbeitsmarkt jener Zeit können die offiziellen Statistiken nur schwer zeichnen. So waren im Oktober 1946 in Hessen bei den Ämtern 90 345 Personen als arbeitslos registriert. Die Volkszählung im selben Monat ergab allerdings, daß 170 300 Leute nach einer Beschäftigung suchten. Den l 706 000 am Stichtag gezählten Erwerbstätigen gegenübergestellt, bedeutete dies eine Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen stieg in den ersten Jahren nach dem Krieg ständig, doch waren daran Zweige wie die Bauwirtschaft überdurchschnittlich beteiligt. Etliche, die keinen Arbeitsplatz fanden oder sich vor einem Einsatz in einem anderen Beruf als dem gelernten fürchteten, verlegten sich auf oft lukrative Schwarzmarktgeschäfte oder überstanden die Zeit bis zur Währungsreform mit Hilfe ihrer Ersparnisse aus der inflationären Kriegszeit. Außerdem fanden zahlreiche Menschen eine vorübergehende Beschäftigung in der Landwirtschaft, die ihnen zumindest das "tägliche Brot" sicherte. Wer eine Stelle hatte oder dringend suchte, mußte sich meist mit einem sehr viel geringeren Einkommen als vor dem Krieg zufriedengeben: Zusammen mit dem Preisanstieg verteuerte das die Lebenshaltung für die Menschen um rund 50 %.
Vorbereitungen in der Verwaltung
Ende Oktober 1945 hatte die amerikanische Militärregierung angekündigt, daß im Laufe des folgenden Jahres 600 000 Flüchtlinge und Vertriebene nach Hessen kämen und daß deren Aufnahme Sache der deutschen Behörden sei. Die Aufnahme habe ohne lange Lageraufenthalte zu erfolgen, und die Flüchtlinge seien vollständig zu integrieren.
Für die hessische Regierung kam damit ein weiteres kaum zu bewältigendes Problem hinzu, war doch das Land Groß-Hessen kaum gegründet und der von der Militärregierung eingesetzte Ministerpräsident Geiler erst wenige Tage im Amt.
Nach der Ankündigung der bevorstehenden Ankunft von 600 000 Menschen aus dem Osten und Südosten durch die Militärregierung erging bereits am 25. Oktober 1945 ein Erlaß der hessischen Regierung an die Regierungspräsidenten mit ersten Anweisungen zur Aufnahme der Vertriebenen, und am 27. Oktober wurde die Stelle eines Staatsbeauftragten für das Flüchtlingswesen besetzt, da die Aufgabe die herkömmliche Verwaltung überforderte. (Dok. 4) Dieses schwere Amt übernahm Walter Mann, der der KPD nahestand. Er war zuvor Soldat (Oberfeldwebel), nach Kriegsende für die Bunkerfürsorge der Stadt Frankfurt zuständig gewesen und übrigens der am frühesten ernannte Staatsbeauftragte in der amerikanischen Zone. Sein Chef war der Minister für Arbeit und Wohlfahrt, der kommunistische Widerstandskämpfer Oskar Müller. Für ihn stand von Anfang an fest, daß die Flüchtlinge und Vertriebenen nicht in ihre Heimat würden zurückkehren können. Deshalb suchte man bei der ersten Unterbringung schon günstige Ausgangspositionen für die Zukunft zu schaffen: Lager auf enthalte sollten so kurz wie möglich gehalten werden und die Unterbringung in Privatquartieren sofort nach der Ankunft im Aufnahmeort erfolgen. In Zusammenarbeit mit dem Landesarbeitsamt bemühte man sich, die Flüchtlinge dort unterzubringen, wo sie auch Arbeit finden konnten.
Die Kompetenzen des Staatsbeauftragten mußten allerdings noch sehr begrenzt bleiben, weil für die neue Behörde ein Unterbau auf Bezirks- und Kreisebene nicht so schnell geschaffen werden konnte. Somit hing viel vom guten Willen der Landräte und Bürgermeister ab. Laut Erlaß vom 25. Oktober wurde bei jedem Landratsamt ein besonderer Flüchtlingsfürsorgeausschuß gebildet, dem zumindest verantwortliche Mitglieder für folgende neun Sachgebiete angehören sollten: Unterbringung, Verpflegung, Bekleidung, Gesundheitsbetreuung, berufsmäßige Erfassung und Arbeitseinteilung, statistische Erfassung, Transport, kulturelle und soziale Betreuung. Die kulturelle Betreuung sollte in den Flüchtlingen den Willen zur allgemeinen Aufbauarbeit und zur positiven Mitarbeit wecken und stärken und insbesondere der Jugend und den Kindern eine positive Ausrichtung geben. Die verantwortlichen Mitarbeiter übten ihre Arbeit ehrenamtlich aus.
Bei der Aufnahme der ersten Transporte zeigte die einheimische Bevölkerung viel guten Willen. Als die Transporte im Frühjahr 1946 aber nicht weniger wurden, sondern ständig wuchsen, ließ sich das Problem mit gutem Willen und Improvisation allein nicht mehr regeln. In dieser Zeit wurde eine neue gesetzliche Grundlage erarbeitet: die Verordnung über den Fluchtlingsdienst. Die am 23. März 1946 in Kraft gesetzte Regelung stärkte das Kommissariatswesen. Aus dem Staatsbeauftragten wurde ein Staatskommissar, dem hauptamtliche Bezirks- und KreisflüchtUngskommissare unterstanden. So sollte eine Sonderverwaltung entstehen, die den Regierungspräsidenten und Landräten in Flüchtlingsfragen nicht unterstellt war. Die Aufgaben des Flüchtlingsdienstes waren:
a) Ausstellung der Flüchtlingsausweise,
b) Erfassung der Flüchtlinge,
c) Beförderung zum Zielort,
d) Beschaffung einer Unterkunft am Aufnahmeort,
e) Rat und Hilfe bei Begründung einer Lebensgrundlage,
f) Gewährung von Fürsorgeleistungen bis zur Erlangung einer Lebensgrundlage.
Dem zuständigen Minister genügte die Erweiterung der Kompetenzen nicht. Die Landräte dagegen lehnten eine Flüchtlingssonderverwaltung mit einem von ihnen unabhängigen Kommissarsapparat ab, sondern wollten die Flüchtlingsfrage ohne Anweisungen von oben selbständig regeln. In der täglichen Arbeit spielten solche Meinungsunterschiede indes keine Rolle, weil die Flüchtlingskommissare auf die Mitarbeit der Landräte angewiesen waren und deshalb, wenn sie Erfolg haben wollten, nicht auf Weisungsbefugnis pochen konnten.
Im Auffanglager
Die Transportzüge wurden von den bayerischen Grenzauffangstellen nicht unmittelbar in hessische Landgemeinden gelenkt, sondern wurden nach Weisung eines hessischen Transportkommissars, der sein Büro in München hatte, zu bestimmten Auffangbahnhöfen in den Regierungsbezirken weitergeleitet. In den drei Regierungsbezirken gab es jeweils mehrere solcher Stationen. Eine davon war Sandbach i.O., wo für die Unterbringung ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager der dortigen Gummiwerke diente. Neben Sandbach wurden im Regierungsbezirk Darmstadt in Gießen, Lauterbach und Dieburg Auffangstationen eingerichtet. Im Regierungsbezirk Wiesbaden waren Bad Homburg (für die Kreise Bad Homburg und Usingen), Weilburg (für die Kreise Weilburg, Limburg und Bad Schwalbach), Herborn (für die Kreise Dillenburg und Biedenkopf) und Schlüchtern (für die Kreise Gelnhausen, Hanau/Land, Frankfurt/Höchst und Rüdesheim) die Stationen. Als die Zahl der Transporte immer mehr wuchs, mußten weitere Nebenlager eingerichtet werden. Von Juni 1946 an wurden auf den Bahnhof in Biedenkopf Transporte aus Ungarn geleitet.
Zur Begrüßung der Flüchtlinge wurde ein Flugblatt verteilt, das in herzlichem Ton die Vertriebenen ansprach, sie als Opfer nationalsozialistischer Machtpolitk bezeichnete und die Grundpositionen der hessischen Landesregierung darlegte. Klar ausgedrückt wurde, daß die hessische Regierung von einer dauernden Eingliederung ausging. (Dok. 5 ) Bei der Betreuung der Vertriebenen auf diesen "Drehscheiben" haben freiwillige Helfer viel geleistet. Die Züge wurden von Schwestern des Deutschen Roten Kreuzes empfangen. Auch wenn ein Zug spätabends einlief, gelang es meist schnell, 30 bis 40 einheimische Helfer zusammenzurufen. In den Auffangstationen wurden die Flüchtlinge registriert und ärztlich untersucht. Schließlich wurden unter Berücksichtigung des Berufs und der Konfession neue Transporte in bestimmte Orte oder in Kreisflüchtlingslager zusammengestellt.
Im Kreisflüchtlingslager
Die Transporte folgten zum Teil so schnell aufeinander, daß die Vertriebenen von den Auffangstationen aus nicht immer direkt in einzelnen Ortschaften in Privatquartieren untergebracht werden konnten. Deshalb mußten die Landkreise Zwischenunterkünfte schaffen. Neben einem Hauptlager wurden oft noch Nebenlager eingerichtet. Als Aufenthaltsdauer waren ca. 4 - 6 Tage vorgesehen. Am ersten Tag wurden die Flüchtlinge entlaust, am zweiten ärztlich untersucht und am dritten registriert. In den folgenden Tagen wurden sie in ihre Aufnahmeorte gebracht, meist mit der Bahn oder einem Lastwagen. Auch in den Kreisen unterstützten freiwillige Helfer von Hilfsorganisationen die Lagerverwaltung. Es gab allerdings auch längere Lageraufenthalte, wenn kein freier Wohnraum mehr zu finden war.
Hessische Flüchtlingslager
Hessen erntete in zeitgenössischen Berichten Lob dafür, daß Flüchtlinge hier nicht jahrelang in Lagern leben mußten. Nach einem Bericht des Landesflüchtlingsamtes waren gegen Ende des Jahres 1947 nur ca. 2200 Flüchtlinge in Lagern untergebracht; berücksichtigt man, daß im Jahr 1946 rund 400 000 Vertriebene nach Hessen gekommen waren, so war dies eine erstaunliche Leistung. Doch auch in Hessen gelang es nicht immer, längere Lageraufenthalte zu vermeiden.
Wie belastend das Leben in Lagern war, die keine Privatheit erlaubten, schildert der heimatvertriebene Volkskundler Alfred Karasek-Langer:
"Symbol dafür ist der Kreidestrich, sind die gelegten Ziegelsteine, welche die Wohnfläche einzelner Familien gegenüber den Nachbarn markieren sollen. Dasselbe besagen die Schein-Wände aus Packpapier, Pappendeckel oder Wolldecken, die man hinhängt, um wenigstens blickmäßig allein zu sein. Jedermann ist durch das gemeinsame Hausen, den Essensempfang, die Teilhabe an Tisch, Stuhl, Ofen und Licht unablässig der Gruppe ausgeliefert, muß mit ihr denken und handeln, ob er will oder nicht. Dazu kommen weitere Belastungen. Auch die Bewertung der Lagerinsassen durch die Umwelt ist kollektiv gebunden: der Einzelne wird nach dem Ganzen beurteilt und nicht nach seinem persönlichen Verhalten."
Einweisung in Privatquartiere in Wiesbaden und auf dem Lande
Von den Durchgangs- oder Kreisflüchtlingslagern aus wurden die Flüchtlinge in die einzelnen Gemeinden gebracht und dort im günstigsten Fall direkt in Privatquartieren aufgenommen oder aber, wenn sie weniger Glück hatten und für sie noch kein Quartier gefunden war, vorübergehend in Turnhallen, Sälen oder stillgelegten Fabriken untergebracht. Da es kaum leerstehende Wohnungen gab, mußten die Heimatvertriebenen im Rahmen der damals üblichen Wohnungszwangswirtschaft in Häuser und Wohnungen von Einheimischen eingewiesen werden. Nicht selten aber haben Einheimische ankommende Flüchtlinge auch spontan bei sich aufgenommen.
Fremde in der eigenen Wohnung auf unabsehbare Zeit aufzunehmen, fällt sicherlich immer schwer. Um so schwieriger war es nach Kriegsende, als es an Wohnraum und Nahrung fehlte. Flüchtlingsunterkünfte in den Städten zu finden, war besonders schwierig, da hier die Bombenschäden verheerend waren. Frankfurt, Kassel und Darmstadt hatte es in Hessen am schwersten getroffen: Nur noch jede vierte Wohnung war tatsächlich bewohnbar. Die Verwaltungen versuchten den Zuzug mit strengen Regelungen zu begrenzen. Bevorzugt wurden Menschen, deren Beruf in den Städten gebraucht wurde. Wiesbaden gehörte an sich zu den weniger zerstörten Städten: Nur 25% der Wohnungen waren durch den Bombenkrieg zerstört oder beschädigt. Gleichwohl lassen sich auch typische Interessenkonflikte deutlich machen. (Dok. 6) In die heil gebliebenen Wohnungen strömten nicht nur Wiesbadener zurück, die während des Bombenkriegs evakuiert waren. Auch die amerikanische Militärregierung und - da Wiesbaden im Oktober 1945 hessische Landeshauptstadt geworden war - auch die Ministerien und Landesbehörden benötigten Wohnraum für ihre Angestellten.
Ein Teil der Bürgerschaft wünschte die Wiederbelebung als "Weltkurstadt", ein anderer sah neue Chancen in der Ansiedlung von Wirtschaftsunternehmen und Verlagen und Teilen der Filmindustrie, die von ihren Standorten in der sowjetisch besetzten Zone an den Rhein strebten. Dies konnte ebenfalls nur gelingen, wenn die Stadt für Mitarbeiter solcher Firmen Wohnraum zur Verfügung stellen konnte. Wiesbaden mußte zwar auch Vertriebene aufnehmen, aber weit weniger als ursprünglich vorgesehen waren. Allem durch die Flüchtlinge und Vertriebenen aus den Ostgebieten, die sich noch auf eigene Faust ihren Wohnort suchen konnten und nach Wiesbaden kamen, hatte die Stadt ihr ursprüngliches Soll von 15 000 schon im Sommer 1946 erreicht. Insgesamt kamen 1946 nur vier größere Transporte, meist aus Teplitz-Schönau (Sudetenland), und eine Reihe kleinerer Transporte, die zusammen aber noch nicht 2000 Flüchtlinge ausmachten, nach Wiesbaden; rund 500 von ihnen waren von der tschechischen Regierung als "Antifaschisten" anerkannt worden. Deshalb durften sie ihre Möbel mitnehmen. Auch nach dem Ende der Ausweisungen stieg die Zahl der Flüchtlinge ständig an, so daß im Jahr 1950 etwa 25 000 Flüchtlinge in Wiesbaden lebten, was rund 10 % der Bevölkerung entsprach.
Wegen der prekären Wohnungssituation in den Städten wurden die Vertriebenen ganz überwiegend auf dem Land untergebracht. Ein anschaulicher Bericht darüber, wie sich die Aufnahme auf dem Lande vollzog, findet sich in den Erinnerungen einer Frau, die als 14jähriges Mädchen nach Hessen kam. Mit ihren Eltern und 15 weiteren Familien wurde sie vom Auffanglager Villmar mit Lastwagen nach Eisenbach (Kreis Limburg) gebracht:
"Eisenbach zeigte uns in jenen Oktobertagen 1946 kern freundliches Bild. Tagelanger Regen hatte die Straßen und Wege aufgeweicht, naßkalter Nieselregen aus einem endlos grauen Himmel begleitete unsere ersten Schritte in dem Dörfchen, das von nun an unsere "neue Heimat" war. Im Saalbau Gattinger hatte man rings um die Wände Stroh aufgeschüttet, wo wir unser Lager bezogen. Koffer, Taschen und Rucksäcke, unser ganzer Besitz, standen in einer Ecke zusammen. Bürgermeister Willi Köhler begrüßte die Neuangekommenen mit dem Versprechen, uns baldmöglichst in Wohnungen einzuweisen. Er weckte Vertrauen in den leidgeprüften Menschen, wenngleich es allen klar war, daß man als einer der letzten Transporte nur noch wenig Auswahl an Wohnungen haben würde. Um die vollständige Mittellosigkeit der ersten Tage zu überbrücken, wurden wir zu Eisenbacher Familien zum Mittagessen und zum Abendbrot eingeteilt. Der Ortsdiener verteilte ein wenig ruppig die Adressen. So gingen wir zweimal täglich in die Adolfstraße zu Familie Gattinger, die uns freundlich bewirtete."
Die fünfköpfige Familie erhielt nach einer knappen Woche ein etwa 12 qm großes Zimmer im Obergeschoß ohne Wasseranschluß mit angrenzender schmaler Kammer. Nachbarn stellten einen Tisch und zwei Stühle zur Verfügung, die Gemeinde Feldbetten und die Vermieterin einen kleinen Kanonenofen.
"Das Thermometer sank auf sibirische Temperaturen, und es gab weder Kohle, Briketts noch Brennholz. In dem kleinen Nadelwäldchen an der Straße zur "Rücker-Hütte" durfte mein Vater mit anderen Flüchtlingsmännern ein paar Stangen fällen. Das Holz reichte kaum 14 Tage. So blieb nur der tägliche Gang in den Wald, wo man Tannenzapfen, dünne Äste und totes Holz lesen konnte.
Zur Kälte kam der Hunger. Auch hier war der späte Zeitpunkt unserer Ankunft ein schwerer Nachteil. Das Ährenlesen, das "Stoppeln" der Kartoffeln, war längst vorüber, das Obst geerntet. Kein noch so kleiner Apfel lag mehr unter den mächtigen Bäumen im Langgraben, Hundsgraben oder an der "Hessenstraße". Auch die Saison für Beeren und Pilze war vorbei. Die auf Marken zugeteilten Nahrungsmittel waren nicht zum Leben und nicht zum Sterben."
Doch nicht selten gab es auch Konflikte bei der Aufnahme der Flüchtlinge und Vertriebenen auf dem Lande, wo eine Schicksalsgemeinschaft, die alles verloren hatte, auf eine andere Gemeinschaft traf, die häufig nur wenig verloren hatte. (Dok. 7) Der Arbeitsminister nannte in seinem Bericht über den Flüchtlingsdienst in Groß-Hessen vom 18. November 1946 offen Probleme bei der Wohnungszuteilung, der Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs und bei der Zulassung von Vertriebenenbetrieben. Dadurch seien oft "Zuspitzungen, ja Klüfte" zwischen Neu- und Altbürgern entstanden. Die Ursachen sah der Minister darin, "daß bislang keine uneingeschränkt bevollmächtigte staatliche Zentralstelle des Flüchtlingsdienstes bestand, die in ihren Koordinierungsbefugnissen in der Lage gewesen wäre, auch die Ministerien in unmißverständlicher Weise bei allen Dispositionen auf die aus dem Flüchtlingsproblem sich ergebenden Notwendigkeiten auszurichten." Die wahre Ursache war aber sicherlich die Not, in der diese große Aufgabe bewältigt werden mußte. Ob sie auf kommissarischem Wege wirklich besser gelöst worden wäre, ist zweifelhaft.
Das zeigt ein Vergleich mit Bayern, wo die Flüchtlingskommissare mehr Kompetenzen hatten. Bayern gehörte ebenfalls zur amerikanischen Zone und hatte deshalb von der Besatzungsmacht dieselben Vorgaben wie Hessen. Auch in Bayern wurden die Vertriebenen in die vom Krieg wenig zerstörten alten Notstandsgebiete im Nordosten gelenkt, wo Arbeitsplätze rar waren. Doch die Unterbringung gestaltete sich hier sehr schwierig. Trotz Androhung hoher Geld- und Haftstrafen weigerten sich viele Landbewohner erfolgreich, Flüchtlinge aufzunehmen. Besitz und lokales Prestige erhöhten die Chancen, keinen Flüchtling aufnehmen zu müssen. So mußten in Bayern Ende Oktober 1946 fast 150 000 Vertriebene in 1375 Lagern leben, und es gelang wegen der nachfolgenden illegalen Grenzgänger bis 1950 nicht, die Lager abzubauen. In Hessen dagegen konnten die Vertriebenen leichter bei der einheimischen Bevölkerung untergebracht werden. Meinungsumfragen der Besatzungsmacht unterstreichen dieses Bild. Im März 1947 waren 61% der Flüchtlinge in Hessen zufrieden mit der Behandlung seitens der einheimischen Bevölkerung, in Bayern hingegen nur 37%. Ein Grund liegt vermutlich auch darin, daß in Hessen ein offeneres soziales Klima herrschte und die kleinbäuerliche Bevölkerung vielfach Mitleid hatte und offenbar eher zu solidarischem Handeln fähig war.
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