6. Vorbereitung und Durchführung der Deportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager 1938 bis 1944
Viele Institutionen und Individuen halfen bei der Verfolgung, Deportation und Ermordung von Sinti und Roma mit.
Der Einfluss der „Zigeuner“forschung bei der Vorbereitung des Völkermordes
Ohne die Mitarbeit von Wissenschaftlern hätte der spätere Volkermord nicht vorbereitet und durchgeführt werden können. Hier ist vor allem der Nervenarzt Dr. Dr. Robert Ritter zu nennen, unter dessen Leitung die „Zigeunerforschung“ an der Schnittstelle zwischen Reichsgesundheitsamt und Reichskriminalpolizei zentralisiert wurde. Die von ihm geleitete Forschungsstelle setzte sich zum Ziel, jeden „Zigeuner“ im Lande aufzuspüren und nach seiner Abstammung zu befragen. Auf diese Weise sollten lückenlose Genealogien erstellt werden, mit deren Hilfe „Gaunertum", "getarnter Schwachsinn" sowie „kriminelle und verbrecherische Neigungen" den Sinti und Roma zugeschrieben und als "urtümliche ererbte Instinkte" ausgelegt werden. Auch an der Universität in Gießen gab es eine dezidiert gegen Sinti und Roma angelegte Rassenforschung unter Kranz, der später an die Universität Frankfurt wechselte.
Eine der Hauptaufgaben der Berliner Rassenhygienischen Forschungsstelle war die möglichst lückenlose Erfassung der so genannten „Zigeuner und Zigeunermischlinge“ in Deutschland. Bis zum Beginn des Jahres 1941 waren in Deutschland etwa 20.000 - 30.000 Menschen namentlich erfasst und katalogisiert. Die Aufdeckung und Erfassung der Zigeunerstämme und er Mischlingsgruppen, so der Leiter der Forschungsstelle, war nicht wissenschaftlicher Selbstzweck, sondern dienten bewusst dazu, Unterlagen für die in Kürze zu erwartenden einschneidenden Maßnahmen gegen Sinti und Roma bereitzustellen. Ritter schrieb Anfang 1940 von weitreichenden Evakuierungsmaßnahmen, das hieß Vertreibung oder Verschleppung. Ritters „Forschungen“ und die seines Stabes kreisten um die Frage, wer als „Zigeuner und Zigeunermischling“, wie aus der rassistisch definierten deutschen Volksgemeinschaft auszugrenzen sei.
Ausgehend von sogenannten „rassenbiologischen“ und „bastardbiologischen Theorien“ suchte er nach messbaren Ergebnissen, die die Unterlegenheit der ethnischen Minderheit belegen sollten. Vor allem seine Mitarbeiterinnen trugen Ergebnisse über Nasenlänge, Ohrengröße, Kopfgröße etc. der deutschen Sinti und Roma zusammen. Wesentlich wichtiger war aber, dass bei diesen durch die Kriminalpolizei geleiteten Untersuchungen auch Angaben über die Verwandtschaftsverhältnisse gesammelt wurden, die die fast vollständige Erfassung der Sinti und Roma-Bevölkerung ermöglichten. Diese Unterlagen befinden sich heute im Bundesarchiv in Berlin. Ritter hatte immer wieder kritisiert, dass man „unzählige Zigeuner ... als solche nicht erkannt und daher nicht erfasst“ habe, weil bei den Polizeimaßnahmen in der Regel nur diejenigen Sinti und Roma erfasst worden waren, die einem ambulanten Gewerbe nachgingen.
Die polizeiliche Erfassung und Verfolgung
In den Jahre 1938 und 1939 wurde schließlich ein kriminalpolizeilicher Apparat aufgebaut, der eigens der „Zigeunerbekämpfung" diente. Er erstreckte sich von der „Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" in Berlin bis hinunter zu den Ortspolizeibehörden. Die institutionellen Voraussetzungen für eine reichseinheitliche Unterdrückung der Sinti und Roma waren damit gegeben, ohne dass ein reicheinheitliches Gesetz gegen Sinti und Roma formuliert wurde.
Am 8. Dezember 1938 begründete Heinrich Himmler in seinem Runderlass, oft als „Grunderlass“ zitiert, die weiteren Verfolgungsmaßnahmen gegen die in Deutschland lebenden Sinti und Roma. Zunächst sollten die 0,03 Prozent der deutschen Bevölkerung systematisch erfasst werden. Er verlangte zudem eine „Regelung der Zigeunerfrage aus dem Wesen dieser Rasse heraus", wie er schrieb. Damit prägte der moderne Rassismus nun auch die polizeiliche Verfolgung der Sinti und Roma.
Am 17. Oktober 1939 ordnete das mittlerweile geschaffene Reichssicherheitshauptamt an, dass „Zigeuner und Zigeunermischlinge" bis auf weiteres ihren Wohn- bzw. Aufenthaltsort nicht mehr verlassen dürften.
Durch diese „Festschreibung“ wurde Sinti und Roma ihre bisherige Berufsausübung untersagt. Gleichzeitig wurden sie vor Ort zur Arbeit verpflichtet mit einer sozial-, arbeits- und steuerrechtlichen Schlechterstellung gegenüber der Mehrheitsbevölkerung.
Mit dem sogenannten Festsetzungserlass konnte jede Übertretung sofort mit der Einweisung in ein Konzentrationslager bestraft werden. Das betraf Männer und Frauen gleichermaßen. Dies bedeutete eine abermaliger Verschärfung der Lebenssituation der Sinti und Roma, obwohl schon seit 1933 Sinti und Roma in fast alle rassistisch begründeten Verfolgungsmaßnahmen eingeschlossen waren. Hunderte von Sinti- und Roma-Männer waren 1938 in Konzentrationslager verschleppt worden.
Diskriminierungen gab es schon lange für die Sinti und Roma in vielen Teilen der Gesellschaft. Auch die Ausschließung von Berufen war nicht neu. Die Verweigerung von Wandergewerbescheinen, die für die Ausübung aller Arten von ambulanten Gewerbe und Handwerk seit dem 19. Jahrhundert notwendig waren, war schon im späten 19. Jahrhundert von Zentralbehörden und lokalen Instanzen immer wieder erwogen worden, aber wegen einer rechtsstaatlichen Ordnung nicht in ihrer Totalität umsetzbar gewesen. Nach 1933 war es dann Behördenmitarbeitern leichter möglich, aber noch nicht unbedingt zwingend vorgeschrieben, einem Sinto, einer Sintezza oder einem Rom, einer Romni einen Wandergewerbeschein zu verweigern. Diejenigen Sinti und Roma, die zum Beispiel auf eine Registrierung durch die Reichsmusikkammer angewiesen waren, wurden zum Teil mit dem Argument, dass sie künstlerisch nicht hochstehend musizierten ausgeschlossen. Wollten sie weiterhin musizieren, mussten sie sich um einen Wandergewerbeschein bemühen. Hatten sie diesen erhalten, so waren sie verpflichtet für ihre musikalischen Darbietungen Vergnügungssteuern zu zahlen. Ein generelles Verbot des ambulanten Handels für Sinti und Roma gab es allerdings noch nicht, selbst wenn man die immer wieder verordnete restriktive Vergabepraxis für Wandergewerbescheine sieht, die beinahe einem Ausschluss vom ambulanten Handel gleichkam. Als Schausteller tätige Sinti und Roma waren ebenfalls in ihrer Existenz bedroht, ob nun als Besitzer eines Wanderkinos, eines Karussells oder von Schießbuden. Ausschlüsse aus den Kammern beziehungsweise Schwierigkeiten mit den Verbänden, die bis zur Einstellung der Berufstätigkeit führten, traten massiv um 1937/38 auf.
Dramatisch veränderte sich die Lage der Sinti und Roma, die selbständig im ambulanten Gewerbe tätig waren, nach ihrer Festsetzung im Oktober 1939.
Mai 1940
Acht Monate nach der Erfassung und Festschreibung wurden im Mai 1940 etwa 2.800 Sinti und Roma aus Norddeutschland, dem Rheinland und dem deutschen Südwesten nach Polen deportiert. Dies sollte der Beginn der Deportation aller Sinti und Roma aus Deutschland und Österreich sein. Sinti und Roma aus dem Regierungsbezirk Kassel waren in die Umsetzung der Aktion nicht einbezogen, sondern sie wurden nur erfasst und in Gruppen für eine sofortige und eine spätere Abschiebung unterteilt.
Die Mehrheit der Deportierten wurde in Polen unter SS-Bewachung in Zwangsarbeiterkolonnen zusammengefasst und zum Bau von Militäreinrichtungen oder KZs genötigt. Viele Sinti und Roma wurden in die verschiedenen jüdischen Ghettos eingewiesen. Diese Deportationen wurden nach wenigen Wochen im Sommer 1940 eingestellt. Aber die Erfassung der Sinti und Roma war sehr weit fortgeschritten und die deutschen Behörden hatten bewiesen, dass sie in der Lage waren, innerhalb kürzester Zeit viele Menschen „geordnet“ zu deportieren.
Deportation nach Auschwitz
Im September 1942 verständigten sich der Reichsführer Heinrich Himmler und Justizminister Thierack darüber, dass sogenannte „asoziale Elemente aus dem Strafvollzug [...] Juden, Zigeuner, Russen und Ukrainer [...] an den Reichsführer SS zur Vernichtung durch Arbeit ausgeliefert werden“ sollten. Gemäß eines Befehls des Reichsführers-SS vom 16. Dezember 1942 sollten die Sinti und Roma aus Deutschland in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt werden.
Am 29. Januar 1943 verfügte das Reichssicherheitshauptamt schließlich die Deportation. Seit Ende Februar, Anfang März 1943 wurde nach den zuvor erstellten Erfassungslisten die Sinti und Roma überall im Deutschen Reich verhaftet, an lokalen Sammelstellen zusammengeführt und in Zügen der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert. Gemäß eines ergänzenden Erlasses des Reichministers des Innern vom 26. Januar 1943 wurde das Eigentum der nach Auschwitz verschleppten Personen für den deutschen Staat eingezogen. Für diejenigen „Zigeuner“ und Zigeunermischlinge", die nicht nach Auschwitz deportiert wurden, weil sie etwa mit so genannten „Deutschblütigen“ verheiratet waren, war in der Regel die Zwangssterilisation vorgesehen. (s. Raum 7)
Wenige andere Sinti, die unter Ausnahmebestimmungen fielen, wurden nach Frankfurt in das dort Internierungslager in der Kruppstraße deportiert, dort immer mit der Drohung lebend, doch noch nach Auschwitz verbracht zu werden.
s. hierzu: Peter Sandner: Frankfurt. Auschwitz. Frankfurt 1998 (Hornhaut auf der Seele Band 4)
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