4. Memorandum des PPS vom 14. März 1952: Gesamtdeutsche Wahlen am 16.11.1952?
Die erste größere Generalbesprechung im State Department über die Stalin-Note fand zwei Tage später, am 14. März 1952, im Büro des Stellvertretenden Unterstaatssekretärs Freeman H. Matthews statt. Folgt man einer Notiz von John F. Ferguson, dem Stellvertretenden Leiter des Planungsstabes, so zirkulierte bei dem Treffen neben dem von Perry Laukhuff, dem Leiter der Deutschlandabteilung, vorbereiteten Antworttext [18] ein alternativer Entwurf des Politischen Planungsstabes [19] (Abschnitt IV in Dok. 6). Übereinstimmend setzten beide Texte allein auf das Thema »freie Wahlen« als Prüfstein für die Ernsthaftigkeit von Stalins Angebot und sahen bewusst davon ab, mit der Sowjetunion bereits zu diesem Zeitpunkt substantielle Fragen eines Friedensvertrages mit Deutschland zu erörtern. Aber die Strategie war insofern anders, als die Deutschlandabteilung ganz auf die Modalitäten der Kontrolle von freien Wahlen und hier insbesondere auf die von der Sowjetunion bekanntermaßen schon früher abgelehnte Überwachung durch eine UN-Kommission abstellte, während der Politische Planungsstab ein derartiges taktisches, auf die Vermeidung eines ernstgemeinten Verhandlungsangebots hinauslaufendes Lavieren für problematisch und falsch hielt. In diesem Sinne präsentierten Robert W. Tufts und Richard M. Scammon [20] ein zwölfseitiges Memorandum mit dem Titel »Outline of factors bearing on the Western reply to the Soviet note on Germany« (Dokument 8).
Analog ihrer Konzeption vom 12. März plädierten die Autoren dafür, die Sowjetunion sofort mit einem vorgegebenen Termin für gesamtdeutsche Wahlen zu konfrontieren. Nach ihren Vorstellungen sollten die Wahlen für eine gesamtdeutsche Nationalversammlung am Sonntag, dem 16. November 1952 stattfinden, und zwar nach den Modalitäten der Wahl zur Nationalversammlung in der Weimarer Republik vom Januar 1919. Die Kontrolle sollte kennzeichnenderweise nicht durch eine UN-Kommission, sondern durch die vier Mächte nach dem Muster der Berliner Stadtwahlen vom Oktober 1946 ausgeübt werden. Die Alliierten Hohen Kommissare von Großbritannien, Frankreich und den USA sollten sich bis spätestens 1. April 1952 mit dem Vorsitzenden der sowjetischen Kontrollkommission treffen, um ein gemeinsames Kontrollgremium für die Wahlen zu bilden.
Die Begründung des alternativen Notenentwurfs folgte in den Grundzügen der bereits dargestellten Argumentation des Planungsstabes vom 12. März 1952 (Dokument 5). Gleichwohl besticht das Memorandum vom 14. März durch seine unvoreingenommene, von taktischer Rücksichtnahme freie Analyse der Interessenlage der USA, der möglichen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Alternativen und ihrer jeweiligen Implikationen. Es sei möglich (Abschnitt I), dass die Sowjetunion mit ihrem Vorschlag für eine Neutralisierung Deutschlands bereit sei, eine grundlegende Wende in ihrer Politik, nicht nur auf Deutschland allein bezogen, zu vollziehen; denkbar sei aber auch, dass sie nur die Integration Westdeutschlands und die Integration Westeuropas insgesamt verzögern und blockieren wolle. Es bestehe vielleicht eine Chance von 1:10 für eine positive Reaktion der Sowjetunion. Das Ziel des Westens (Abschnitt II) müsse daher sein, erstens die sicherlich vorhandenen Fallgruben (»traps and pitfalls«) zu vermeiden, zweitens einen »Lackmus-Test« der sowjetischen Intentionen vorzunehmen, und drittens in Richtung der eigenen Interessen in Deutschland, Westeuropa und in der sowjetischen Einflusssphäre vorzustoßen.
Das eigentliche Kernproblem bestehe aber in einem ganz anderen Punkt, nämlich der Frage, ob ein wiedervereinigtes, unabhängiges und neutrales Deutschland mit den westlichen Interessen überhaupt vereinbar sei und die USA bereit seien, sich gegebenenfalls auf diesen Weg einzulassen. In Abschnitt III des Memorandums wird zunächst auf die großen Schwierigkeiten verwiesen, auf die die bisherige amerikanische Europapolitik gestoßen sei und die auch in Zukunft, vor allem in Hinblick auf Deutschland und Frankreich, zu erwarten seien. Diese Probleme würden durch eine Zurückweisung des sowjetischen Angebots nur noch intensiviert. Dagegen verbessere ein Eingehen auf Stalins Offerte nicht zuletzt das gespannte Verhältnis zur Sowjetunion, baue dort vorhandene Bedrohungsängste ab und stabilisiere durch die Auflockerung des Ost-West-Konflikts und die Herausbildung eines polyzentrischen Mächtesystems den Weltfrieden:
»On the whole it is probably in the long run interest of the U.S. if new power centers can be established and if the present East-West conflict can be replaced by an interplay of interests between several power centers. We need not fear Germany so long as we maintain a strong atomic capability« (Dokument 8).
Die atomare Überlegenheit der USA minimiere im übrigen das militärische Risiko eines nicht in das westliche Verteidigungssystem eingebundenen Deutschland. Für die amerikanische Europapolitik ergäben sich unter der Voraussetzung einer Wiedervereinigung somit folgende sicherheitspolitische Alternativen: die Beibehaltung der NATO in Verbindung mit der Absicht, Deutschlands Interessen mit dem Westen zu verbinden oder zumindest seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion zu sichern; oder die Auflösung der NATO und die Ausbildung eines neuen westeuropäischen, formal unabhängigen Machtzentrums, das aber für den Fall eines militärischen Angriffs die Schutzzusage der USA und Großbritanniens habe. Beide Möglichkeiten befänden sich in Übereinstimmung mit dem langfristigen amerikanischen Interesse; welcher Weg schließlich eingeschlagen werde, hänge weitgehend von den Präferenzen der kontinentaleuropäischen Länder, insbesondere Frankreich und Deutschland, ab. Falls sich die USA für eine ernsthafte Prüfung des sowjetischen Friedensvertragsangebots entscheiden würden, sei es aber von größter Bedeutung, so schnell wie möglich zu einem Abschluss der EVG-Verträge zu kommen. Nur so könne gezeigt werden, dass der Westen über eine reale Alternative verfüge, und zugleich Druck auf die Sowjetunion ausgeübt werden, einer Lösung der deutschen Frage zuzustimmen.
Anmerkungen:
[18] | Der amerikanische Entwurf für die Antwortnote enthalten in: 14. 3. 1952 Telegramm Acheson an die amerikanische Botschaft in London (Secret), FRUS, 1952-54 Vol. VII, Washington 1986, 1, S. 173-75 |
[19] | Ein ausführliches Protokoll der Sitzung vom 14. 3. 52 ist in den Akten bisher nicht gefunden worden. Hinweise auf die Besprechung finden sich in einem Memorandum von John F. Ferguson an Bohlen u.a. vom 18. 3. 1952. RG 59, PPS Box 16. Dort heißt es u.a. »I understand that last week when the reply to the Soviet note was being discussed, Paul raised with the secretary the possibility of drafting a different kind of reply than the one now under discussion. The suggestion, 1 believe, was that we test whether the Soviet Union was prepared to significantly alter its position by saying that if they were serious they should create in Eastern Germany the conditions necessary for a free election by a given date. A copy of such a draft was circulated at a meeting in Mr. Matthews' office on March 14.« |
[20] | Zur Tätigkeit von Richard M. Scammon im Planungsstab siehe u.a. 22 RG 59, PPS Box 9, Meetings 1. 11. 1949, 12. 12. 1949; Box 28, 24. 1. 1950; Box 32, 11. 10. 1949, 18. 10. 1949, 1. 12. 1949, 16. 12. 1949, 11. 1. 1950, 13. 1. 1950, 18. 1. 1950, 24. 1. 1950; für das folgende Zitat s. Dok. 3. |
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