10. Das Attentat und der Umsturzversuch vom 20. Juli 1944: Die Verbindung zu zivilen Gruppierungen des Widerstands
In seiner Rundfunkansprache unmittelbar nach der Niederschlagung des Umsturzversuches in der Nacht zum 21. Juli 1944 bezeichnete Hitler den Widerstand gegen sein Regime als ein „Komplott“ einer „ganz kleinen Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer Offiziere“. Dieses Zerrbild des 20. Juli 1944 dominierte noch bis in die 1950er Jahre hinein in der Bundesrepublik Deutschland die öffentliche Meinung. Über das Ende Hitlers und den Zusammenbruch des NS-Regimes hinaus galten Stauffenberg und seine Mitstreiter als Hoch- und Landesverräter.
Doch alsbald wurde deutlich, dass die Offiziersgruppe um Stauffenberg nur die „Spitze des Eisbergs“ bildete. Der militärische Widerstand des 20. Juli 1944 stand in enger Verbindung mit zivilen Widerstandsgruppen, die wiederum mehr oder minder eng miteinander vernetzt waren. Konzentrischen Kreisen vergleichbar, waren in den konkreten Attentatsplan unmittelbar nur sehr wenige Personen eingeweiht; aber eine größere Gruppe war darüber unterrichtet, dass ein Umsturzversuch bevorstand. Zu diesem „konspirativen System der Geheimhaltung und des aufgeteilten Vertrauens“, wie die NS-Ermittler aufdeckten, gehörte sodann ein dritter, weiterer Kreis von Personen, die ohne exakte Detailkenntnisse für den Fall eines Umsturzes reichsweit in den einzelnen Wehrkreisen die regionalen und lokalen Widerstandskräfte mobilisieren sollten.
Die unübersehbaren Verbrechen des Regimes und die katastrophalen Folgen des Weltkriegs für Deutschland stellten über die gesamte politische, weltanschauliche und soziale Bandbreite des Widerstands hinweg einen Minimalkonsens her: Hitler und das NS-System müssen beseitigt werden, um zu einem politischen und moralischen Neubeginn zu gelangen. Vermittelt durch Generaloberst a. D. Ludwig Beck, hatte Stauffenberg selbst lange vor dem Hitler-Attentat Verbindungen zum Widerstandskreis um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler aufgenommen. Auch zum Kreisauer Kreis bestand enger Kontakt, nicht zuletzt über den Vetter Stauffenbergs, Graf Yorck von Wartenburg. Es gelang schließlich, die Aktionsbasis für eine spätere Regierungsbildung zu verbreitern, indem man auch führende Persönlichkeiten des sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Widerstands wie Julius Leber und Wilhelm Leuschner einweihte.
Nach einem erfolgreichen Staatsstreich, den 1944 allein die Wehrmacht durchzuführen imstande gewesen wäre, planten Stauffenberg und seine Mitverschwörer nicht die Errichtung einer Militärdiktatur. Zwischen militärischen und zivilen Gegnern Hitlers bestand Einigkeit darüber, dass das Attentat und der Staatsstreich Aufgabe des Militärs war. Daran anschließend sollte – gewissermaßen arbeitsteilig – der politische Neubeginn maßgeblich von Angehörigen des zivilen Widerstands getragen werden: Vorrang besaß die Politik. Es war beabsichtigt, die Regierungsgeschäfte sobald wie möglich einer neuen Reichsregierung zu übertragen. Ludwig Beck, der Mittelsmann zwischen militärischem und zivilem Widerstand, fand als designiertes Staatsoberhaupt allgemeine Zustimmung. Auf einer möglichst breiten politischen, gewerkschaftlichen und weltanschaulich-konfessionellen Grundlage sollten die Minister- und Staatssekretärsämter im „neuen“ Deutschland besetzt werden.
Über die zukünftige innen- und außenpolitische Gestaltung Deutschlands hatten sich die unterschiedlichen Widerstandskreise bis zum 20. Juli 1944 in Grundzügen angenähert. Die von den Verschwörern zum Umsturzversuch vorbereiteten Verlautbarungen spiegeln diese Übereinkunft wider. Mit der Beseitigung der NS-Willkürherrschaft sollte die „Majestät des Rechts“ wiederhergestellt werden. Die Regierung sollte „einer geordneten Kontrolle durch das Volk unterstehen“. Nach der Beseitigung Hitlers hoffte man auf die „Sicherung eines gerechten Friedens, der dem deutschen Volk ein Leben in Freiheit und Ehre, den Völkern freiwillige und fruchtbare Zusammenarbeit ermöglicht“.
Lebensbild Carl Friedrich Goerdeler
Die Haltung Carl Friedrich Goerdelers zum Nationalsozialismus wandelte sich von uneingeschränkter Zusammenarbeit hin zur Teilnahme an der Verschwörung des 20. Juli 1944.
Carl Friedrich Goerdeler, geboren am 31. Juli 1884 in Schneidemühl (Provinz Posen), entstammte einer angesehenen preußischen Beamten- und Juristenfamilie. So absolvierte auch Carl Friedrich Goerdeler ein rechtswissenschaftliches Studium. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann er seine Karriere im Kommunaldienst, die ihn bis 1930 in das Amt des Oberbürgermeisters von Leipzig führte.
Wie viele andere Persönlichkeiten der traditionellen, nationalkonservativen Elite auch, begrüßte Goerdeler anfangs den nationalsozialistischen Staat. Obgleich er kein NSDAP-Mitglied war, beließen die Nationalsozialisten den loyalen Verwaltungsfachmann Goerdeler in seinem Amt als Oberbürgermeister von Leipzig und beriefen ihn 1934 zum Reichspreiskommissar.
Goerdelers Weg in den Widerstand begann mit seiner Kritik an der unseriösen Finanzpolitik des NS-Regimes und steigerte sich dann zum offenen Protest gegen die Entfernung des Denkmals für den Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy durch örtliche Parteiführer, was ihn im April 1937 zum Rücktritt von seinem OB-Amt veranlasste. Sein „aufrechter Gang“ brachte Goerdeler für die Zukunft auf Seiten der Opposition große Sympathien und Vertrauen ein. Fortan sammelte sich um Goerdeler ein Kreis oppositioneller nationalkonservativer Persönlichkeiten der älteren Generation, deren politischer Orientierungsrahmen das unter Bismarck entstandene Kaiserreich war. Goerdeler und seine Mitstreiter wollten zwar die außenpolitischen Beschränkungen des Versailler Vertrages überwinden, nahmen aber Anstoß an der für Deutschland verhängnisvollen Kriegspolitik Hitlers. In enger Zusammenarbeit vor allem mit Ludwig Beck, dem früheren Botschafter Ulrich von Hassell und dem ehemaligen preußischen Finanzminister Johannes Popitz entwickelte der Goerdeler-Kreis für die Zeit nach dem Nationalsozialismus Neuordnungspläne, die weniger demokratische als autoritäre Züge trugen und daher auch von Vertretern des Kreisauer Kreises als „reaktionär“ abgelehnt wurden.
Goerdeler, der nach einem gelungenen Staatsstreich aufgrund seiner fachlichen Qualifikation und seiner Reputation als Reichskanzler vorgesehen war, wurde nach seiner Verhaftung vom Volksgerichtshof am 8. September 1944 zum Tode verurteilt und am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
Doch alsbald wurde deutlich, dass die Offiziersgruppe um Stauffenberg nur die „Spitze des Eisbergs“ bildete. Der militärische Widerstand des 20. Juli 1944 stand in enger Verbindung mit zivilen Widerstandsgruppen, die wiederum mehr oder minder eng miteinander vernetzt waren. Konzentrischen Kreisen vergleichbar, waren in den konkreten Attentatsplan unmittelbar nur sehr wenige Personen eingeweiht; aber eine größere Gruppe war darüber unterrichtet, dass ein Umsturzversuch bevorstand. Zu diesem „konspirativen System der Geheimhaltung und des aufgeteilten Vertrauens“, wie die NS-Ermittler aufdeckten, gehörte sodann ein dritter, weiterer Kreis von Personen, die ohne exakte Detailkenntnisse für den Fall eines Umsturzes reichsweit in den einzelnen Wehrkreisen die regionalen und lokalen Widerstandskräfte mobilisieren sollten.
Die unübersehbaren Verbrechen des Regimes und die katastrophalen Folgen des Weltkriegs für Deutschland stellten über die gesamte politische, weltanschauliche und soziale Bandbreite des Widerstands hinweg einen Minimalkonsens her: Hitler und das NS-System müssen beseitigt werden, um zu einem politischen und moralischen Neubeginn zu gelangen. Vermittelt durch Generaloberst a. D. Ludwig Beck, hatte Stauffenberg selbst lange vor dem Hitler-Attentat Verbindungen zum Widerstandskreis um den ehemaligen Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler aufgenommen. Auch zum Kreisauer Kreis bestand enger Kontakt, nicht zuletzt über den Vetter Stauffenbergs, Graf Yorck von Wartenburg. Es gelang schließlich, die Aktionsbasis für eine spätere Regierungsbildung zu verbreitern, indem man auch führende Persönlichkeiten des sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Widerstands wie Julius Leber und Wilhelm Leuschner einweihte.
Nach einem erfolgreichen Staatsstreich, den 1944 allein die Wehrmacht durchzuführen imstande gewesen wäre, planten Stauffenberg und seine Mitverschwörer nicht die Errichtung einer Militärdiktatur. Zwischen militärischen und zivilen Gegnern Hitlers bestand Einigkeit darüber, dass das Attentat und der Staatsstreich Aufgabe des Militärs war. Daran anschließend sollte – gewissermaßen arbeitsteilig – der politische Neubeginn maßgeblich von Angehörigen des zivilen Widerstands getragen werden: Vorrang besaß die Politik. Es war beabsichtigt, die Regierungsgeschäfte sobald wie möglich einer neuen Reichsregierung zu übertragen. Ludwig Beck, der Mittelsmann zwischen militärischem und zivilem Widerstand, fand als designiertes Staatsoberhaupt allgemeine Zustimmung. Auf einer möglichst breiten politischen, gewerkschaftlichen und weltanschaulich-konfessionellen Grundlage sollten die Minister- und Staatssekretärsämter im „neuen“ Deutschland besetzt werden.
Über die zukünftige innen- und außenpolitische Gestaltung Deutschlands hatten sich die unterschiedlichen Widerstandskreise bis zum 20. Juli 1944 in Grundzügen angenähert. Die von den Verschwörern zum Umsturzversuch vorbereiteten Verlautbarungen spiegeln diese Übereinkunft wider. Mit der Beseitigung der NS-Willkürherrschaft sollte die „Majestät des Rechts“ wiederhergestellt werden. Die Regierung sollte „einer geordneten Kontrolle durch das Volk unterstehen“. Nach der Beseitigung Hitlers hoffte man auf die „Sicherung eines gerechten Friedens, der dem deutschen Volk ein Leben in Freiheit und Ehre, den Völkern freiwillige und fruchtbare Zusammenarbeit ermöglicht“.
Lebensbild Carl Friedrich Goerdeler
Die Haltung Carl Friedrich Goerdelers zum Nationalsozialismus wandelte sich von uneingeschränkter Zusammenarbeit hin zur Teilnahme an der Verschwörung des 20. Juli 1944.
Carl Friedrich Goerdeler, geboren am 31. Juli 1884 in Schneidemühl (Provinz Posen), entstammte einer angesehenen preußischen Beamten- und Juristenfamilie. So absolvierte auch Carl Friedrich Goerdeler ein rechtswissenschaftliches Studium. Noch vor dem Ersten Weltkrieg begann er seine Karriere im Kommunaldienst, die ihn bis 1930 in das Amt des Oberbürgermeisters von Leipzig führte.
Wie viele andere Persönlichkeiten der traditionellen, nationalkonservativen Elite auch, begrüßte Goerdeler anfangs den nationalsozialistischen Staat. Obgleich er kein NSDAP-Mitglied war, beließen die Nationalsozialisten den loyalen Verwaltungsfachmann Goerdeler in seinem Amt als Oberbürgermeister von Leipzig und beriefen ihn 1934 zum Reichspreiskommissar.
Goerdelers Weg in den Widerstand begann mit seiner Kritik an der unseriösen Finanzpolitik des NS-Regimes und steigerte sich dann zum offenen Protest gegen die Entfernung des Denkmals für den Komponisten Felix Mendelssohn-Bartholdy durch örtliche Parteiführer, was ihn im April 1937 zum Rücktritt von seinem OB-Amt veranlasste. Sein „aufrechter Gang“ brachte Goerdeler für die Zukunft auf Seiten der Opposition große Sympathien und Vertrauen ein. Fortan sammelte sich um Goerdeler ein Kreis oppositioneller nationalkonservativer Persönlichkeiten der älteren Generation, deren politischer Orientierungsrahmen das unter Bismarck entstandene Kaiserreich war. Goerdeler und seine Mitstreiter wollten zwar die außenpolitischen Beschränkungen des Versailler Vertrages überwinden, nahmen aber Anstoß an der für Deutschland verhängnisvollen Kriegspolitik Hitlers. In enger Zusammenarbeit vor allem mit Ludwig Beck, dem früheren Botschafter Ulrich von Hassell und dem ehemaligen preußischen Finanzminister Johannes Popitz entwickelte der Goerdeler-Kreis für die Zeit nach dem Nationalsozialismus Neuordnungspläne, die weniger demokratische als autoritäre Züge trugen und daher auch von Vertretern des Kreisauer Kreises als „reaktionär“ abgelehnt wurden.
Goerdeler, der nach einem gelungenen Staatsstreich aufgrund seiner fachlichen Qualifikation und seiner Reputation als Reichskanzler vorgesehen war, wurde nach seiner Verhaftung vom Volksgerichtshof am 8. September 1944 zum Tode verurteilt und am 2. Februar 1945 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.
URL dieses Dokuments: http://digam.net/index.php?room=601
—
URL dieser Ausstellung: http://digam.net/index.php?exp=130
© 2024 DigAM - digitales archiv marburg / Hessisches Staatsarchiv Marburg, Veröffentlichung
nur mit Genehmigung
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.