5. Gegenrevolution
Selbstverständlich begann die Gegenrevolution mit den ersten Zugeständnissen der Fürsten, denn diese dienten der Einhegung der Revolution. Und mit den ersten Zugeständnissen begannen die Versuche, diese wieder rückgängig zu machen. Auch Kurfürst Friedrich Wilhelm I. tauschte wenige Wochen nach ihrer Einsetzung erste "Märzminister" wieder aus, bis er das wieder zurücknehmen musste. Es war ein testendes Sticheln. Mehr als Sticheln, nämlich ein großer Sieg der Gegenrevolution, war die Einnahme Wiens Anfang November 1848, gefolgt von der standrechtlichen Erschießung des herbeigeeilten Abgeordneten der Nationalversammlung Robert Blum. Blum war Fraktionsführer der Demokraten, aber die Tat, mit der die Täter prahlten, wurde als das verstanden, was es war, eine Machtdemonstration gegenüber dem Parlament in Frankfurt. Der liberale Kasseler Bürgerverein sandte deshalb eine Solidaritätsadresse an die Nationalversammlung (Dok. 1). Ende November gab es in Kassel eine Trauerfeier (Dok. 2), in Marburg organisierten Studenten eine musikalisch-deklamatorische Abendunterhaltung, deren Erlös an die Hinterbliebenen von Robert Blum gehen sollte (Dok. 3).
Die Verfassung, die die Nationalversammlung Ende März 1849 verabschiedete, war mit ihrem gesetzgebenden Zweikammermodell (die zweite Kammer für die Landesfürsten) und einem Kaiser als Regierungsoberhaupt nicht gerade das, was Demokraten oder Sozialisten begeistern konnte. Als aber die großen Länder, also Preußen, Sachsen, Bayern und Hannover, nicht unterzeichnen wollten und damit drohten, dass alles zurückgedreht wird, rief die äußerste Linke der Nationalversammlung dazu auf, Wehrausschüsse zu bilden und sich ein Beispiel an den Pfälzern zu nehmen, die bereits einen bewaffneten Kampf begonnen hatten (Dok. 4). Solche Aufrufe gingen nun durchs ganze Land und wurden nicht nur von Demokraten getragen (Dok. 5, 6, 7). Ein Kasseler Aufruf forderte die kurhessischen Soldaten auf, für die deutsche Reichsverfassung zu kämpfen; unterzeichnet auch vom Bürgerverein und vom Verein der selbständigen Gewerbetreibenden. Der Marburger Wehrausschuss rief für den 20. Mai in den umliegenden Ortschaften zu Volksversammlungen auf (Dok. 8).
Die Stadt Marburg kaufte zur Verteidigung der Verfassung 200 gestreckte Sensen und lagerte sie im Rathaus ein. Es war geplant, mit den Hanauer Turnern die Aufständischen in Baden zu unterstützen. Anfang Juni machten sich zwar gut 30 Handwerksgesellen, Eisenbahnarbeiter und Studenten in Richtung Baden auf, kehrten aber kurz darauf zurück, um Verstärkung aus Nordhessen abzuwarten, die jedoch nicht kam. Die Hanauer Turner zogen allein nach Baden, wo der Aufstand Ende Juni von preußischen, bayerischen und kurhessischen Truppen niedergeschlagen wurde. Der gemeinsame Volksrat von Hanau und Marburg lud Vertreter aus allen kurhessischen und darmstädtischen Orten zur Besprechung am 23. Juni 1849 (Dok. 9). Doch das Treffen der 67 Vertreter in Marburg stand bereits unter Aufsicht der Obrigkeit.
Im Grunde war die Revolution zu dem Zeitpunkt längst am Ende. Die Reaktion brauchte nur noch ausfegen. Aber das zog sich in Kurhessen hin. Denn zum einen hatte das Land eine liberale Verfassung, und zum anderen gehörte es zu den 28 Ländern, die die Reichsverfassung akzeptiert hatten. Als Kurhessen dem Dreikönigsbündnis (Preußen-Sachsen-Hannover) beitrat und Anfang 1850 "Reichstagswahlen" mit Wahlpflicht angesetzt wurden, gab es entsprechend Boykottaufrufe. Diese Wahl verstoße gegen die gültige Reichsverfassung und sei damit Hochverrat, unterschrieben mehr als 30 Marburger Bürger (Dok. 10). Faktisch war die Reichsverfassung mit dem Bündnisbeitritt auch in Kurhessen Geschichte.
Die kurhessische Verfassung wollte Friedrich Wilhelm I. - wie bereits im Vormärz praktiziert - aushebeln, ohne sie abzuschaffen. Die Suche nach geeignetem Personal zog sich hin, bis im Februar 1850 wieder Ludwig Hassenpflug die Regierungsgeschäfte übernahm. Und der brach einen Streit über die Steuererhebung mit dem Landtag vom Zaun, der dazu führte, dass dieser die Bewilligung versagte. Das übliche Procedere der Auflösung des Landtags und seine Neuwahl machte die Opposition nur noch stärker (Dok. 11). Friedrich Wilhelm I. versuchte es nun mit einer Steuer-Notverordnung. Die Verwaltung setzte die Verordnung aber nicht um, weil sie diese für verfassungswidrig hielt. Das Oberappellationsgericht sah das genauso und erklärte die Verordnung für nichtig. Der Kurfürst verhängte nun das Kriegsrecht und zwang die Offiziere der kurfürstlichen Armee, sich zwischen ihrem Eid auf ihn und den auf die Verfassung zu entscheiden: Von 277 Offizieren reichten bis zum 12. Oktober 1850 241 (87 Prozent) Entlassungsgesuche ein. Der Kurfürst floh nach Frankfurt und bat den Deutschen Bund um Hilfe, und der schickte bayerische Truppen (Dok. 12). Und mit deren Hilfe wurde auch in Kurhessen der Raum der Möglichkeiten bis auf weiteres geschlossen.
Wer irgendwie an der Revolution beteiligt war, bekam bayerische Soldaten zur Strafe einquartiert. Es gab Amtsenthebungen, Versetzungen aber auch Festnahmen und Prozesse. Wem eine Festnahme drohte, floh. Karl Theodor Bayrhoffer ging nach Amerika.
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