2. Parteienbildung
Auch im Vormärz gab es Vereine, in Kurhessen beachtliche 60 Geselligkeitsvereine und 40 Turn- und Gesangsvereine. Etliche unter ihnen dienten dem Treffen Gleichgesinnter unter dem Deckmantel der harmlosen Freizeitbeschäftigung. Aber jetzt war es möglich, sich offen politisch zu organisieren und das musste schnell gehen, denn Wahlen zur Nationalversammlung waren schon für April vorgesehen. Die politischen Richtungen in Marburg organisierten sich zunächst in Wahlkomitees: die Demokraten unter der Leitung von Bayrhoffer und die liberal-konstitutionellen Bürger unter der Leitung des Historikers Heinrich von Sybel.
Das Vorparlament in Frankfurt hatte den Ländern die Entscheidung überlassen, ob sie die Wahlen zur Nationalversammlung als direkte Wahl oder als indirekte Wahl über Wahlmänner gestalten. In Marburg startete umgehend eine Unterschriftensammlung für die direkte Wahl (Dok. 1). Am Ende gehörte Kurhessen zu den wenigen Staaten, die sich für die direkte Wahl entschieden hatten. Allerdings blieb das Männer-Wahlrecht auf "selbständige Männer" beschränkt, was den Kreis der Wahlberechtigten nochmal um ein Drittel verringerte, nämlich um alle Handwerksgesellen, Dienstboten und Arbeiter (Dok. 2). Damit waren angehende Stammwähler der Demokraten ausgeschlossen, dafür waren sie zu einem frühen Zeitpunkt zentral in Frankfurt für den Wahlkampf organisiert (Dok. 3).
Der Demokrat Bayrhoffer strebte seinem Programm vom 10. April 1848 zu Folge eine Bundesrepublik an mit einem gesetzgebenden Einkammerparlament, der Nationalversammlung, und einem gewählten ausführenden Präsidenten (Dok. 4). Die einzelnen Bundesländer sollten ihre Verfassungen ebenfalls so gestalten. Soziale Not zu lindern, war für ihn Aufgabe des Staates, konkret sind "Arbeitsanweisungsanstalten" und "Anstalten für Invalide" genannt. Im Programm stehen aber auch die Ziele "Gründung einer deutschen Flotte und eines deutschen Systems von Kolonien", wie an anderer Stelle die Einführung einer progressiven Einkommens- und Vermögenssteuer.
Der liberale v. Sybel dagegen wollte sich in seinem Flugblatt vom gleichen Tage nicht auf eine Staatsform festlegen, und den Ländern wollte er ohnehin selbst überlassen, wie sie sich verfassen mögen (Dok. 5): "Man kann unfrei sein in einer Republik und frei sein in einer Monarchie". Er legte sich aber fest auf ein Zweikammermodell auf Bundesebene: Eine Volkskammer, gewählt wie gerade die Nationalversammlung, und eine Kammer, in der Vertreter der Länder zusammenkommen (also wie heute Bundestag und Bundesrat). Dann müsse es ein "Bundeshaupt" geben, umgeben von Ministern. Zur Linderung sozialer Not wollte er die Auswanderung erleichtern, unmittelbare Hilfe des Staates lehnte er dagegen ab. Er verwies die Armen auf die Vereinigungsfreiheit. Am besten geholfen sei den armen Klassen aber durch die Förderung der Wirtschaft und der Kolonisation.
Am 13. April, drei Tage nach der Veröffentlichung seines Wahlkampfflugblattes, unterschrieb v. Sybel einen Wahlaufruf für den beliebten Nationalökonomen Bruno Hildebrand (Dok. 6, 7). Das liberal-konstitutionelle Lager wollte seine Stimmen konzentrieren. Am Folgetag gab es dagegen einen Wahlaufruf für Bayrhoffer mit sechs Unterschriften mehr (Dok. 8). Das nützte aber nichts. Hildebrand (8789 Stimmen) gewann mit Abstand das Mandat für den Wahlkreis VIII (u.a. mit Marburg, Frankenberg, Kirchhain nebst Dörfern) vor Bayrhoffer (2778 Stimmen).
Nach den Wahlen nahmen die Parteigründungen Fahrt auf, 80 Parteivereine waren es bis Jahresende allein in Kurhessen, im Sommer 1849 dann 160. Auf dem Höhepunkt sollen nach Hochrechnungen 19.000 Männer oder 10 Prozent der männlichen Bevölkerung Kurhessens politisch organisiert gewesen sein.
In Marburg gründete v. Sybel Ende April den liberal-konstitutionellen Vaterlandsverein, der ausdrücklich eine erbliche Monarchie "auf breiter volkstümlicher Grundlage" bevorzugte und für den die Revolution in und für Hessen seit dem 11. März mit der neuen beim Kurfürsten erstrittenen Regierung beendet sei (Dok. 9). In dem Programm-Entwurf des Vaterlandsvereins wurden dann die Demokraten (ohne sie zu nennen) dafür verantwortlich gemacht, dass aktuell keine gesetzliche Ordnung herrsche, weil sie mit Gewalt Fürsten verjagen, Kirchen stürzen und Wohlhabende plündern wollten.
Bayrhoffer, der den Demokratischen Verein gegründet hatte, veröffentlichte umgehend eine Entgegnung (Dok. 10). Im Mai 1848 wurden die Marburger Turner aufgefordert sich ihm anzuschließen (Dok. 11) und im Sommer vereinigte sich der Demokratische Verein mit dem ebenfalls von Bayrhoffer gegründeten Marburger Arbeiterverein zum Demokratisch-sozialistischen Verein.
Für Leopold Eichelberg, der noch im Wahlkomitee mit Bayrhoffer zusammengearbeitet hatte, war die soziale Frage gegenüber der politischen nachrangig, weshalb er im Sommer die Gesellschaft der reinen Republikaner zu Marburg ins Leben rief (Dok. 12).
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