5. Aufstrebendes jüdisches Bürgertum in Marburg
Marburgs jüdische Bewohner waren während des Königreichs Westphalen nicht nur in den Genuss der bürgerlichen Gleichstellung gekommen, sondern der Stadt war mit der Einrichtung eines Districtrabbinats für das Werra-Departement erstmals auch eine Mittelpunktfunktion für die geistlich-administrativen Angelegenheiten der Juden zugewachsen.
Nach der Restitution des Kurfürstentums behielt Marburg diese Funktion, denn es wurde 1823 Sitz des für die Provinz Oberhessen zuständigen Provinzialrabbinats. Provinzialrabbiner des 19. Jahrhunderts waren Moses Salomon Gosen (1824-1862), Liebmann Gersfeld (1862-1876) und Dr. Leo Munk (1876-1917). Ihre Funktion bestand in der seelsorgerlichen und rituellen Betreuung der jüdischen Gemeinden der Provinz und Marburgs. Sie überwachten den Unterricht der Jugend und die Kultusausübung, prüften die Schächter und ließen sie zu und standen in engem Kontakt mit der für das israelitische Religionswesen zuständigen kurfürstlichen Regierung.
Von den durch die Verordnung von 1816 erreichten Verbesserungen profitierte das jüdische Wirtschaftsleben in Marburg, da es nun in Grenzen erlaubt war, Handwerk und Gewerbe auszuüben sowie Haus- und Grundbesitz zu erwerben. Auch die Wahl des Wohnortes unterlag geringeren Restriktionen, so dass einige im Umland lebende jüdische Familien nach Marburg zogen.
Die jüdische Gemeinde in Marburg wuchs bereits während der französischen Regierungszeit von acht auf zwölf Familien an. Im Jahr 1824 gab es 14 jüdische Haushalte, von denen vier ein eigenes Haus bewohnten. Gut 30 Jahre später (1855) hatte sich die Zahl der Haushalte zwar auf 24 vermehrt, aber die Zahl der jüdischen Hausbesitzer war nur auf sechs angestiegen. Für das Jahr 1874 lässt das Marburger Adressbuch eine weitere Zunahme um etwa zehn jüdische Haushalte annehmen. Dieses zunächst eher allmähliche Anwachsen beschleunigte sich zunehmend. 1889 erwähnt das Adressbuch bereits 67 jüdische Haushaltungen.
Zuzugsorte waren zumeist Kleinstädte und Dörfer in der Umgebung Marburgs. So stammte die hier zu Wohlstand gelangte Bankiersfamilie Strauß zum Beispiel aus Amöneburg. Einige wanderten auch aus entfernteren, aber doch zumeist hessischen Orten zu. In der Stadt Marburg steigerte sich durch die genannten Entwicklungen der Anteil der jüdischen Bevölkerung von einem Prozent in der kurhessischen Zeit auf drei Prozent um das Jahr 1885.
Die Entwicklung im 19. Jahrhundert führte nicht nur zu einem Anwachsen der jüdischen Bevölkerung, sondern auch zu einer stärkeren Diversifizierung in ihrer Erwerbstätigkeit. Im ersten Viertel des Jahrhunderts benennen Kaufmann oder Trödler beinahe ausschließlich die jüdischen Gewerbe. Im Jahr 1855 hatte sich die Bandbreite der Tätigkeiten um handwerkliche und akademische Professionen verbreitert, eine Tendenz, die auch nach der Reichsgründung fortdauerte. Freilich ist nicht zu übersehen, dass der Schwerpunkt jüdischen Erwerbslebens weiterhin im Bereich des Handels lag. Die Spanne darin war aber sehr breit. Zu ihrem oberen Ende zählen am Ausgang des 19. Jahrhunderts vier jüdische Bankhäuser, zwei Juweliere und Uhrmacher, das moderne Warenhaus der Familie Erlanger sowie Textilgeschäfte für den gehobenen Bedarf. An ihrem unteren Ende existierten weiterhin jüdischer Kleinhandel und –gewerbe.
Der Lebensweg des Privatdozenten Dr. med. Leopold Eichelberg zeigt, dass es Juden allmählich gelang, in die gehobenen bürgerlichen Kreise Marburgs aufgenommen zu werden, denn er gehörte über Jahre u. a. dem Vorstand des Marburger Museumsvereins an.Sein Beispiel ist symptomatisch für den wirtschaftlichen und schließlich auch gesellschaftlichen Aufstieg, der nun möglich war. Wenn dieses auch nicht allen gelang, so war das 19. Jahrhundert in der Tendenz für die jüdische Bevölkerung Marburgs eine Zeit des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstiegs. Zur Mitte des Jahrhunderts hatte sich in Marburg zunächst eine breite jüdische Unterschicht gebildet. Der allgemeine wirtschaftliche Aufschwung in den Jahrzehnten bis zur Jahrhundertwende führte schließlich aber zur deutlichen Verringerung der Unterschicht zugunsten eines Anwachsens einer jüdischen Mittelschicht.
Das demographische Wachstum, der zunehmende Wohlstand und das gestiegene soziale Ansehen der jüdischen Gemeinde sollten ihren Spiegel auch in deren Synagogen finden. So wurden die Gottesdienste am Anfang des 19. Jahrhunderts in zwei angemieteten Räumen einer Bäckerei in der Barfüßer Straße abgehalten, die bald zu klein waren. Im Jahr 1817 kaufte die Gemeinde das Haus Ritterstraße 2 an und baute es zur Synagoge um. Am 14. August 1818 wurde die neue Synagoge in Anwesenheit von Vertretern aller drei christlichen Konfessionen feierlich eingeweiht. Da die jüdische Gemeinde 1886 auf 400 Personen angewachsen war, reichten die Räume in der Ritterstraße nicht mehr aus und man bemühte sich um einen Neubau. Die Suche nach einem geeigneten Grundstück führte schließlich zu einem Garten von 1.135 m² Größe, der neben dem Waisenhaus und unterhalb der Stadtmauer lag. Hier sollte die neue Synagoge entstehen, gelegen zwischen der Oberstadt als Geschäftsviertel und der Südstadt, dem bevorzugten Wohngebiet, in der heutigen Universitätsstraße. In nur 16 Monaten Bauzeit entstand ein stattlicher Sandsteinbau mit einer Kuppel, der Platz für 230 Männer im Erdgeschoß und 175 Frauen auf der Empore bot. Die Einweihung fand am 15. September 1897 unter Teilnahme sämtlicher Marburger Honoratioren statt. Die neu erbaute Synagoge zeigte durch ihre Größe und prominente Platzierung, dass die jüdischen Bürger ein fester Bestandteil der städtischen Gesellschaft in Marburg waren.
(Ba)
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