6. Barfüßerstraße 26: Staatlich gelenkte Arisierung ab 1938
Barfüßerstraße 26 (Foto: Theiß, 2015)
Im Haus Barfüßerstraße 26 befand sich von 1913 bis 1938 das "Spezialgeschäft in Hessischen Landestrachten" von Julius Stern. Neben Trachtenkleidung führte das Geschäft Manufakturwaren, Stoffe sowie "Herren- und Knabenbekleidung". Julius Stern war 1885 in Niederklein geboren, seine Ehefrau Else (geb. Oppenheimer, Jg. 1891) stammte aus Aub in Franken.
Die Geschäftsgründung war erfolgreich: Im Jahr 1918 konnten die Sterns das Haus kaufen, sie vergrößerten das Sortiment und eröffneten 1931ein zweites Geschäft für Betten und Schlafzimmereinrichtungen in der Barfüßerstraße 10.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich das aber schnell: Bereits 1935 mussten die Sterns das zweite Geschäft in der Barfüßerstraße 10 wieder aufgeben. Zweifellos befördert durch die Boykottaktionen der Nazis ab 1933 sanken die Einnahmen in den folgenden Jahren immer weiter, so dass die Sterns bereits ab August 1938 mit dem Ausverkauf ihrer Waren begannen, weil sie das Geschäft zum Ende des Jahres 1938 schließen wollten.
Dieses Vorhaben konnten sie jedoch nicht mehr selbstständig ausführen, der NS-Staat kam ihnen zuvor.
Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 erfolgte der systematische staatliche Zugriff auf das zu diesem Zeitpunkt noch vorhandene Vermögen der deutschen Juden. Am Beispiel der Familie Stern, die zu den wenigen wohlhabenderen jüdischen Familien in Marburg gehörte, zeigen die folgenden Dokumente die systematische Ausplündung dieses Teils der deutschen Bevölkerung, nachdem man diese Gruppe zuerst definiert und dann Schritt für Schritt unter Sonderrecht gestellt hatte.
Julius und Else Stern hatten zwei Kinder: Hans und Margot. Nachdem beide Kinder schon bis 1938 zur Ausbildung in die USA geschickt wurden und dort bei Verwandten untergekommen waren, gelang Julius und Else Stern im Oktober 1939 schließlich ebenfalls die Ausreise in die USA. Da der Familie durch die systematische Enteignung des Vermögens keine Mittel mehr verblieben waren, konnte die Mutter von Else Stern, die Witwe Ernestine Oppenheimer, die seit Februar 1938 bei der Familie in Marburg gewohnt hatte, offenbar nicht mehr in die USA nachgeholt werden. Ernestine Oppenheimer wurde nach Minsk deportiert und ist dort vermutlich dem Mordprogramm zum Opfer gefallen.
Literatur:
- Händler-Lachmann, Barbara und Werther, Thomas: Vergessene Geschäfte, verlorene Geschichte. Jüdisches Wirtschaftsleben in Marburg und seine Vernichtung im Nationalsozialismus, Marburg 1992
- Hessisches Institut für Lehrerfortbildung (Hrsg.): Marburg im Nationalsozialismus. Materialien für eine zeitgeschichtliche Stadterkundung, zusammengestellt von Michael Heiny, Amélie Methner und Susanne Fülberth, Fuldatal und Marburg 1997
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