19. Jugendbewegung und Antisemitismus vor 1914
Die deutsche Jugendbewegung entstand Ende des 19. Jahrhunderts - nicht zufällig zeitgleich zur Herausbildung des jungen deutschen Nationalstaates zu einer leistungsfähigen Industrienation. Die rasanten politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklungen im deutschen Kaiserreich bargen zahlreiche Widersprüche. Mit dem „Wandervogel“ wollten in dieser Zeit Gruppen von Jugendlichen, vorwiegend aus dem mittleren Bürgertum, weg von dem einhergehenden „Massenzeitalter“ auf ein von ihnen romantisiertes einfaches, gemeinschaftliches Leben vorindustrieller Zeit zurückgreifen. Zeit ihres Bestehens war die deutsche Jugendbewegung zahlenmäßig eine Randgruppe. Dennoch wurde sie in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Auf der Flucht aus den Städten suchte man nicht nur eine „natürliche, harmonische Lebensweise“ sondern auch seine vermeintlichen „natürlichen Wurzeln“ als Deutsche. Mit deutschen Volksliedern und -tänzen, der Pflege „germanischer“ Sitten und Gebräuche sowie die allgemeine Berufung auf „deutsches Kulturgut“ waren Mitglieder des Wandervogels auch für nationalistische und deutsch-völkische Ideologien empfänglich. Gleichwohl bekräftigte die deutsche Jugendbewegung zeit ihres Bestehens regelmäßig ihren „unpolitischen“ Charakter.
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts gewann der Antisemitismus in Deutschland zunehmend an Boden. Besonders nach der Euphorie der Reichsgründung 1871 bildeten soziale Missstände, Kulturkampf und Wirtschaftskrise den Nährboden für rassistisches Gedankengut nach den Gründerjahren. Um 1880 etablierten sich in Deutschland antisemitische Parteien und Sammelbewegungen. Pseudowissenschaftliche Rassentheorien erlebten einen raschen Aufschwung. Der Antisemitismus wurde hierbei nicht nur rassistisch, sondern auch politisch, wirtschaftlich und religiös begründet. Er durchdrang weite Kreise des Bürgertums, vor allem des mittleren, aus dem die meisten Führer und Mitglieder der Jugendbewegung kamen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts spaltete sich aufgrund persönlicher und grundsätzlicher Differenzen die Jugendbewegung. Die Traditionalisten sammelten sich in der Folgezeit im „Alt-Wandervogel“, bei dem sich ab 1906 vermehrt völkisch-nationale Bestrebungen bemerkbar machten.
Auch von Außen versuchte man auf die Wandervogel-Bewegung Einfluss zu nehmen. Der 1912 gegründete antisemitische „Reichshammerbund“ suchte teilweise erfolgreich die Nähe zu deren Führern und steuerte antisemitische Kampagnen innerhalb der Jugendbewegung.
Hinzu kam bereits 1909 die Gründung von wandervogelähnlichen Jugendorganisationen, wie den „Fahrenden Gesellen“ als „Bund für Wanderpflege im Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verband“, welcher bereits in seiner Satzung Juden von der Mitgliedschaft explizit ausschloss.
Nicht zuletzt aufgrund der nur sehr wenigen jüdischen Mitglieder im Wandervogel blieb dort das Thema Antisemitismus bis 1910 nahezu unbeachtet. Doch mit der zunehmenden deutsch-völkischen Ausrichtung einiger Gruppen wurde die „Judenfrage“ zwangsläufig angestoßen. Eine Anzahl von Wandervogel-Mitgliedern und -Gruppen hielten jüdische Jugendliche für unfähig das „deutsche Wesen“ zu verstehen. Eine Integration schien nicht vorstellbar.
Auslöser für den heftigen Streit um die Mitgliedschaft von Juden im Wandervogel wurde 1913 ein exemplarischer Fall aus Zittau: Eine jüdische Schülerin bat um Mitgliedschaft in der dortigen Mädchen-Wandervogel-Ortsgruppe. Sie hatte die vorgeschriebenen „Probefahrten“ erfolgreich absolviert, als man ihr mitteilte, dass es sich beim Wandervogel um eine deutsche Bewegung handeln würde, welche deshalb keine Juden aufnehmen könnte. Dieser Fall gelangte durch einen Artikel des Berliner Tageblatts in die Öffentlichkeit. Darauf Bezug nehmend veröffentlichte Karl Wilker, ein Sprecher der „Freideutschen Jugend“ in der Juli-Ausgabe der einflussreichen „Wandervogelführerzeitschrift“ einen Artikel . Er versicherte, dass der Wandervogel „politisch und religiös“ völlig neutral sei, verwarte sich gegen rassistische Vorbehalte und wertete die Entscheidung der Zittauer Ortsgruppe als „unklug“. Mit diesem Artikel löste Karl Wilker eine Flut von Stellungnahmen und Einsprüchen aus. Im September 1913 beteiligte sich der antisemitische Reichshammerbund mit der Schrift „Der Wandervogel deutsch!“ , herausgegeben von Paul Erlach (Pseudonym des Berliner Rechtsassessors Herrmann Otto) an der öffentlichen Diskussion. Es folgte von Paul Erlach eine weitere Flugschrift „Zum Streit um das deutsche Wesen im Wandervogel“.
Auch innerhalb von Ortgruppen und Gauen gab es hierzu Diskussionen und Auseinandersetzungen, wie z.B. in Königsberg . Ebenso meldeten sich mit Moritz Danziger (ehemalige) jüdische Wandervögel zu Wort.
1914 erschien durch Friedrich Wilhelm Fulda, Herausgeber und verantwortlicher Schriftleiter der „Wandervogel-Führerzeitung“ das Sonderheft „Deutsch oder national“ , in welchem auf breiter Front gegen Juden im Wandervogel Stimmung gemacht wurde. Einige Artikel bezogen sich direkt auf Karl Wilker (S.8-10) , (S.10-14) und (S.21-22) Auch die Zittauer Ortsgruppe meldete sich zu Wort. Rudolf W. Linke versuchte nachzuweisen, warum jüdische Jugendliche einen schädlichen Einfluss auf deutsche Jugendliche hätten.
Der sich Bahn brechende Antisemitismus seitens einiger Wandervogel-Funktionären blieb innerhalb des Vereins nicht unbeantwortet. Mehrere Führer distanzierten sich entschieden von dem Kreis um Friedrich Wilhelm Fulda und gründeten als Reaktion eine eigene Zeitschrift „Die Pachantei, Meinungsaustausch der Wandervögel“. Mit der „Judenfrage“ setzte man sich intensiv auseinander. Auch seitens der jüdischen Bevölkerung wurde auf den Streit im Wandervogel eingegangen.
Auf dem Bundestag des Wandervogels zu Ostern 1914 in Frankfurt/Oder wurde bezüglich der „Judenfrage“ um einen Kompromiss gerungen und eine Erklärung verabschiedet. Auch die Presse griff das Thema auf.
Zusammenfassend kann man den Wandervogel in seiner Gesamtheit nicht als antisemitisch bezeichnen. Entsprechende Versuche, z.B. des Reichshammerbundes, den Verein in diese Richtung zu beeinflussen, scheiterten letztlich. Die 1913/1914 geführten Diskussionen zeigen jedoch, wie stark dieses Thema den Wandervogel polarisierte. Die Tatsache, dass sich ab Ende 1913 in verschiedenen deutschen Städten neue Verbände des „Jüdischen Wanderbundes Blau-Weiß“ gründeten, zeigt, dass jüdische Jugendliche - als Reaktion auf die Anfeindungen - verstärkt eigene Strukturen aufbauten. Auch deshalb rückte die „Judenfrage“ im Wandervogel in der Folgezeit wieder in den Hintergrund.
Alexander Lange
Literatur:
Andreas Winnecken: Ein Fall von Antisemitismus. Zur Geschichte und Pathogenese der deutschen Jugendbewegung vor dem Ersten Weltkrieg, Köln 1991
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.