20. 180 Biedenkopf 5645
Titel: siehe Blatt 54
Die Akte "180 Biedenkopf, Nr. 5645" befasst sich ausgiebig mit der Straftat „Isenberg“ vom 05. September 1939 in Buchenau. Sie umfasst 56 Dokumente. Ein großer Teil liegt in diesem Ausstellungsraum in digitalisierter Form vor.
Am Spätabend des 05. September 1939 gegen 23.00 wurde das Geschwisterpaar Bert(h)a Sara und Jakob Israel Isenberg in Buchenau von einigen Männern und Burschen aus dem Haus getrieben, zusammengeschlagen, verhöhnt und verfolgt. Jakob Isenberg konnte sich schließlich in seinem Haus verstecken. Nachdem man seine Schwester aus ihrem Versteck getrieben hatte, wurde sie erneut verprügelt, bis man sie für tot hielt. Der Bürgermeister nahm sich schließlich ihrer an. Weiter kam es im Zuge des Übergriffs zu Diebstahl. Im weiteren Verlauf wurden beide Geschwister ins Krankenhaus gebracht. Die Geschwister versuchen als Folge des Übergriffs von Buchenau nach Marburg zu ziehen und schließlich auszuwandern.
Jakob und Berta Isenberg konnten einige Täter identifizieren, gegen diese wurde Strafantrag gestellt. Die Aussagen liegen vor. Etwa die Hälfte gesteht die Tat, der andere Teil leugnet.
Der Oberstaatsanwalt Lautz in Marburg kritisiert Anfang Dezember 1939 die oberflächliche Bearbeitung der Straftat und verlangt nach einer gründlichen Ermittlung. Diese Kritik ist beachtlich und eindeutig im Zusammenhang mit dem Beginn des 2. Weltkrieges zu sehen. In den Vorkriegsjahren kam es kaum zu nennenswerten Verurteilungen nach Verbrechen an jüdischen Bürgern und jüdischem Eigentum. Vorangehende Interventionen, wie die im Dezember 1939, sind in dieser Form nicht bekannt. Dieser Kritik scheint also ein Wandel der NS-Führung im Umgang mit Verbrechen an Juden im Deutschen Reich voraus gegangen zu sein. Durch den Kriegsbeginn hatte die NS-Führung die Absicht, dass es an der Heimatfront möglichst ruhig blieb. Eine Tolerierung und Forcierung der Übergriffe, wie in den Vorkriegsjahren, war nicht mehr vorgesehen. Nach der Reichspogromnacht vom 09. auf den 10. November hatte die Judenverfolgung in Deutschland eine neue "Qualität" erreicht und die deutschen Juden waren de facto entrechtet und enteignet. Nachfolgende Übergriffe seitens der SA und/oder anderen Organisationen waren - vor allem im Kontext der außenpolitischen Zuspitzung und dem Kriegsbeginn am 01. September 1939 - dysfunktional. Mit dem Überfall auf Polen und besonders mit dem Beginn des Russlandfeldzuges am 22. Juni 1941 begann die systematische Judenvernichtung.
Bereits im Vorfeld hatte sich die Staatsanwaltschaft Marburg sehr negativ über die Vorfälle in Buchenau geäußert (Bl. 1 oben). Diese Ansicht steht in deutlichem Gegensatz zu der Bewertung von Dr. Burghof. Dieser befasst sich in einem Schreiben des Landrates in Biedenkopf an den Oberstaatsanwalt in Marburg ausführlich mit den Hintergründen und Motiven der Tat. Außerdem nennt er einen zweiten, ähnlichen Fall des Julius Isreal Katz. In diesem Schreiben bezieht sich der Autor explizit (Bl. 46) auf das Attentat an dem Legationssekretär vom Rath in Paris vom 07. November 1938. und nennt dieses als Grund für die wachsende Empörung der nationalsozialistischen Gemeinde Buchenau gegen ihre jüdischen Einwohner. Weiter hätte sich Jakob Isenberg geweigert (im Gegensatz zu den übrigen Buchenauer Juden) auszuwandern. Dr. Burghof stellt fest, dass das Scheitern der Friedensbemühungen im Jahre 1938 dem Weltjudentum zuzuschreiben sei. Dieses hätte sich wiederum auf die Stimmung in Buchenau ausgewirkt. Dementsprechend habe es keinen direkten Auslöser für die Tat am 05. September gegeben, sondern diese war vielmehr das Ergebnis vorangehender Taten, Gesten, marxistischer Weltanschauung und Angriffen gegen die NS-Ideologie. Die nationalsozialistische Gemeinde Buchenau wäre in einen Zustand der Volksnotwehr geraten - gegen den Terror Isenbergs. Die Angreifer wären Vollstrecker eines allgemeinem Volkswillens gewesen und hätten keinerlei persönlichen Vorteil gesucht. Ferner hätten die Juden geäußert, dass ein möglicher Krieg ihnen Erlösung bringe.
Der Autor zieht die Schlussfolgerung, dass die Verfahren einzustellen seien. Die Gesetze müssten so angewendet werden, dass sie dem nationalsozialistischen Rechtsempfinden entsprächen.
Das Schreiben endet mit der expliziten Aufforderung an die Kreisleitung der NSDAP in Dillenburg, die Fortführung des Verfahrens zu unterbinden. Ferner eine Aufforderung an die Polizeidienststelle in Frankfurt, das Verfahren einzustellen. Diese teilt die Ansicht Burghofs.
Am Bericht Burghofs (Bl. 43) wird die von der NS-Führung proklamierte "Arisierung" der Wirtschaft deutlich. Der jüdische Besitz soll in "arische" Hände übergehen. Die jüdische Bevölkerung soll nur so viel behalten, wie sie für eine baldige Auswanderung benötigt. Die Aktionen gegen die Juden Katz und Isenberg dienen dem Interesse der NS-Führung, die (Zwangs-)Auswanderung der Juden zu forcieren. Die Dokumente 29 und 29v verstärken diesen Eindruck.
Bearbeitet von Christian Siekmann
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.