Der Nürnberger Reformator und Humanist Andreas Osiander war einer der wichtigsten christlichen Kenner der jüdischen Geschichte, Religion und Kultur seiner Zeit. Er war auch einer der wichtigsten Hebraisten, der unter anderem nach dem Verständnis des jüdischen Talmuds und der Kabbala strebte, in denen, so glaubte er, „reiche Zeugnisse von Christus verborgen seien“. Grundsätzlich behandelte Osiander die Juden mit Respekt und zeigte auch Achtung vor deren Kultur und gelehrten Schrifttum. Er glaubte fest daran, dass die Juden sich bekehren lassen würden und deswegen setzte er sich für sie ein, wenn sie sich bekehrungswillig zeigten. Er scheute aber auch sonst nicht den Kontakt mit Juden. Allerdings sah er in den Juden Ungläubige und Feinde des wahren Glaubens. Sie hatten, seiner Meinung nach keinen Platz innerhalb der christlichen Gesellschaft. Deswegen wandte er sich nicht gegen ihre Vertreibung aus Nürnberg (1498).
Die vorliegende Schrift über die Blutbeschuldigung von 1529 war ursprünglich ein Antwortbrief auf eine Anfrage eines unbekannten Freundes. Dieser schickte Osiander eine Flugschrift über einen Fall von Kindesmord in Pösing, Ungarn, bei dem die ortsansässigen Juden des Ritualmordes beschuldigt wurden. Die Juden sollen, laut der Flugschrift, das Blut des 9 jährigen Jungen für die Salbung ihrer Priester (Cohanim) benutzt haben. Nach einer peinlichen Befragung gestanden diese die Beschuldigungen und wurden nach einem schnellen Prozess verurteilt. Circa 30 Juden, darunter auch Frauen und Kinder, wurden in Folge dessen verbrannt.
Nun fragte der Freund nach Osianders Meinung zur Sache. Osiander, der verhindern wollte, dass Unrecht geschehen oder sich wiederholen würde, sah sich verpflichtet ein Gutachten zu erstellen. Er argumentierte, dass ein Stillschweigen für ihn unmöglich gewesen sei, weil er sich vor Gott schuldig gemacht hätte, wenn er tatenlos dem Rechtsbruch zusah.
In der Schrift schilderte der Reformator 20 Argumente, warum die Blutbeschuldigungen im Allgemeinen weder der Vernunft noch der Wirklichkeit entsprächen. Damit versuchte er seine Überzeugungen mit sachlichen, auf Wissen beruhenden und vernunftgeleiteten Begründungen zu untermauern. Im nächsten Schritt wandte sich Osiander dem Fall aus Pösing zu und führte 12 Punkte auf, welche die Rechtmäßigkeiten im Gerichtsprozess in Zweifel zogen. Da er zur Aufklärung des Falls beitragen wollte, schrieb er, wie der eigentliche Täter gefunden werden könne. Osianders Überlegungen leiteten ihn zur Überzeugung, dass die Juden nichts mit dem Fall des Kindesmordes zu tun hatten.
Nach einer Auskunft über den weiteren Verlauf und den Ausgang des Prozesses hatte Osiander mit seinen Vermutungen Recht, dass verschuldete Christen – in diesem Fall Graf Wolf von Pösing – hinter der ganzen Angelegenheit standen. 1540 spielte diese Schrift wieder eine Rolle bei einem Fall von Ritualmordbeschuldigung. Die Juden von Sappenfeld und der Umgebung wurden beschuldigt, den Mord an einem vierjährigen Knaben begangen zu haben, um das Blut des Kindes für rituelle Zwecke zu missbrauchen. Man ließ infolgedessen alle Juden in der umliegenden Region vor das bischöfliche Gericht in Eichstätt vorladen. Dabei erschienen auch zwei Juden, die zu ihrer Verteidigung ein gedrucktes Büchlein übergaben, das die Juden vor der Blutbeschuldigung verteidigte. Zwar ist es nicht klar, welche Rolle die Schrift in der Entscheidung des Bischofs spielte, aber man weiß, dass es hier zu keiner Judenverfolgung kam.
Aber dieser Fall hatte ein Nachspiel: Die Schrift weckte die Neugier des Eichstätter Bischofs, und dieser ließ sie dem Ingolstädter Theologen Johannes Eck vorlegen. Eck reagierte empört auf diese Schrift. Er reiste zurück nach Ingolstadt, wo er an einer Schrift arbeitete, die eine ausführliche Widerlegung des Traktats bieten sollte. 1541 veröffentlichte er ‚Ains Judenbüechlins verlegung‘, eine Abhandlung, die sich mit Osianders Büchlein Argument für Argument auseinandersetzte und diese zu entkräften versuchte. Neben dieser Widerlegung trug er alle erdenklichen Anklagen und Vorurteile, die in dieser Sache gegenüber den Juden bestanden zusammen. Eine Antwort Osianders auf diese Schrift ist nicht bekannt. Die Lage der Juden wurde aber wieder gefährlicher.
A. Siluk
Weiterfürhende Literatur:
- Moritz Stern, Andreas Osianders Schrift über die Blutbeschuldigung (Ob es war und glaublich sey, dass die Juden der Christen kinder heimlich erwürgen und jr blut gebrauchen), Kies 1983. (Online Ressource: Judaica Sammlung Frankfurt ).
- Gerhard Philipp Wolf, Osiander und die Juden im Kontext seiner Theologie, in: Zeitschrift für bayrische Kirchengeschichte, 53 (1984), S. 49-77.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.