Johannes Reuchlin war zu Beginn des 16. Jahrhunderts einer der ruhmreichsten Humanisten seiner Zeit. Er war sowohl ein geschätzter Jurist und Richter im schwäbischen Bund als auch ein begnadeter Latinist und Gräzist. Er widmete sich in relativ hohem Alter dem Studium der hebräischen Sprache und gilt heute als der Begründer der Hebraistik in Deutschland. Aufgrund seiner Kenntnisse in den drei klassischen Sprachen nannte man ihn „homo triliguis“, eine Bezeichnung, die bei der nächsten Gelehrtengeneration nur den ‚wahren Humanisten‘ gelten soll.
Das Studium der hebräischen Sprache sollte verhindern, dass die Heilige Schrift, die Bibel, irgendwann einmal restlos verlorengeht, und somit gleichzeitig das Fortschreiten unserer Seelen […] im Abgrund endet, schrieb Reuchlin in der Widmungsschreiben zu seiner Hebräischgrammatik. Aber nicht nur die Bibel interessierte Reuchlin, sondern auch die jüdische Mystik, die Kabbala, in der er eine Bestätigung und Beweise für die Richtigkeit des christlichen Glaubens zu finden glaubte.
Reuchlin lernte Hebräisch bei gelehrten Juden, die die einzigen Menschen waren, die diese Sprache im Reich beherrschten, und pflegte zu ihnen einen warmen Kontakt, der oft zu Freundschaften und gegenseitiger Schätzung führte. Solche Freundschaften waren für die Zeit sehr ungewöhnlich. Allerdings scheint Reuchlins Meinung über das Judentum nicht besonders positiv gewesen zu sein. Er war von der Richtigkeit seines Glaubens überzeugt, und vertrat die Meinung, dass man die Juden bekehren könnte, wenn man den jüdischen Glauben und die jüdischen Schriften besser kennen würde, weil man sie dann widerlegen könnte.
Ratschlag, ob man den Juden alle ire bůcher nemmen/ abthůn vnnd verbrennen soll
Dem durchleūchtigsten vnd hochwirdigsten fürsten vnd herrn herrn Vrieln ertzbischoff zů Mentz des hailigen römichen rychs durch Germanien ertzcantzlern vnnd churfürsten ec. Mynem gnedigsten herren/ Embeüt ich Johannes Reüchlin von Pfortzheim maister in der philosophi/ vn in kaißerlichen rechten doctor/ myn vndertenig willig dienst alzeit beuor [zuvor], Hochwirdigster füsrst gnedigster herr. Des aller durchleüchtigsten vnnd großmechtigsten fürsten vnd herren herrn Maximilian Römschen kaisers vnßers aller gnedigsten herren commission vnd beuelch hieuor an euer fürstlich gnaden außgangen vnnd ietzt mir sampt ainem mandat überschickt/ hab ich aus rechter vndertenigkait mit hohen eeren vnd reuerentz empfangenn wie sich gebürt/ darinn mir beuolhen [befohlen] ist / den handel der genmmen oder consignierten iuden bücher so sie yetzo über die gebott Moysi/ der propheten vnnd psalter des alten testaments gebrauchen/ grüntlichen vnnd nach notturfft zů erwegen. vnd zů ratschlagen welcher massen vnnd vff was grund vn weg das alles an zůfahen vnd zů thůnd sy/ Vnnd sunderlich ob sollich bücher ab zethūn göttlich/ löblich vnnd dem hailigen cristglauben nützlich sy/ vnd zů meerung gottes dienst vnd gůttem kōmen mög/ Wie wol ich mich aber sölcher grossē sachē der cristenlichē kirchē nütz/vnd römscher K.M. lob vnnd eer betreffende. gar vil zů klain wais vnnd acht. ye doch auß schuldiger pflicht will ich lieber gegē mengklichem für vnweis dann für vngehorsam gehalten werdē/ vnnd daruff mein klain verstendigkait inn geschrifft geben vff die fragē wie hernach volgt. Ob den iuden ire bücher söllent oder mögent von rechts wegen genōmen, abgethon oder verbrent werden Sagent ettlich ia/ vß vil vrsachen [Gründe].
Zům ersten/ dan sie seien wider die cristen gemacht
Zům andern sie schmehen Jesum/ Maria vn die zwelffbotten [Apostel]/ auch vnns vnd vnser cristenliche ordnung
Zům dritten dann sie seien falsch.
Zům vierden so werden dar durch die iuden vnerfůrt das sie verharren in irer iüdischhait vnd nit zům cristen glauben kommen/
Welcher aber solch gros übel werē möcht [Iv] Vnnd das nit verhütet noch abtette/ der were dem tetter gleich för mig zů achten vn sollte als ain mitverwilliger gleicher straff gehalten werden/ [ex de off. Delega.c.i. eti. q.i. quiquid inuisibilis].
Aber etlich synd die dar zů sagen/ Nain/ auch nit on vrsachen:
zům erstē dann die iuden als vnderthonen [Untertanen] des hailigen römschen reichs sollent by kayßerlichen rechtē behaltten werden.[l.iudei cōmuni romano iure C.de iude].
Zům andern was vnser ist das soll von vns nit mögent kommē/ on vnßer zů thün/ [l. iudaei quod nostrum ff. de reg. jure].
Zům drittē kaißerliche vn künigliche recht auch andere furstliche satzungen haben es fürkommē das nieman das syn verliere durch gewalt [l. 1§ nequid autem. ff. de vi. et vi.]
Zům vierden so sol ain ieglicher by synem alten herkommen brauch vnd besesß behalten werden/ ob er gleich ain rauber wer [c. in literis de resti. spo. in fi.]
Zům funfften so sollennt die iuden ire synagogen die man nennt schul rüwigklich on irrung vnnd eintrag mögen halten. [c. 3. ex. de judaeis]
Zům sechsten so sind sollch iuden bücher noch nit weder von gaistlichen noch weltlichen rechten verworffen noch verdampt [patet per omia corpora iuris et patrum decreta]
Vnnd darumb mainen die selben man sol nit mögen solliche bücher den iuden abreissen vn die vndertrucken oder verbrennen.
In gottes namen amen. Vff die frag zů anttwurten ist noc zů bedencken was zizania vnd vnkraut vnd was triticū oder waissen sei/ da mit ains nit mit dem andern vß geraufft werd/ wie das hailig euangeliū spricht Matthei XIII. Nun find ich vnnder den iuden büchern das sie seien mannicherlai gestalt:
Zům ersten die hailig schrifft haissen sie Essrim varba das ist xxiiii [24], dann so vil haben sy bücher inn ir bibel.
Zům andern den Thalmud das ist ain versamelte leer [Lehre] vnnd auslegung aller gebott vnnd verbott/ so in der thora das ist in den fünff büchern Moysi inen gegeben/ der do sechs hundert vnd xiii [613] inn der zal/ durch vil irer hochgelerten vor langen zytten [Zeiten] beschriben sind.
Zům dritten find ich die hohe haimlichait der reden vn wörter gottes/ die sie haissent Cabala.
Zům vierden find ich scribenten vnnd doctores die do glos vnnd comment schreiben über yeglichs buch der bibel inn sunderhait. Solliche cōment oder commentarien haissen sie perusch.
Zům funfften find ich sermones disputationes vn predig bucher genant midrasch oder draschoth.
Zům sechsten find ich gelert leüt vnnd philosophos inn allen künsten die werden mit gemainem wort Sepharim das ist bücher genannt nach aines yegklichen künstners vnnd der kunst namen.
Zům letsten find ich poetry/ fabel/ gedicht merlin/ spötterei/vnnd exempel büchlin/ des hat iegklichs seinen aigē namen/ wie der dichter des selben büchlins ainen zů fall gehabt hat/ vnd die selben werden von dem merertail [Mehrheit] der iuden selbs für gelogen vnnd erdicht geacht. Ob denen yetzt zů letst gemeltten büchlin mag Sein/ es werdē ettliche gefunden aber gar wenig/ die ettwas spottwort nachred oder lesterunng vnßerm lieben herren vnnd gott Jesu vnnd seiner werden mütter auch den aposteln vnnd hailigen zů legent / Deren hab ich nit mer dann zway geleßen/ das ain wirt genant Nizahon das ander Tolduth Jeschu/ ha nozri/ das auch von dē iuden selbs für apocrypho gehalten wirt/ alls Paulus Burgensis schreibt in secunda parte Svrutinii.c.vi. Wie wol ich vor zeitten ann kayser Friderichs des driten vnßers aller gnedigsten herren vatters löblicher gedechtnus hofe von dē iuden da selbst nach vil redē zwischen vnns gehaltten hab gehört/ das sollich bücher von inen abgethon vertillckt [vertilgt] vnnd allen den iren verbotten sy/ der gleichen nymmer mer zeschreiben oder zeredenn. Nun aber zekommend vff die frag sag ich also/ By welchem iuden wissentlich gefunden würdt ain sollich buch das mit aus getruckten wortenn schlechts vnnd starcks zu schmach schand vnd vneere vnßerm hern gott Jesu/syner werden mütter/ den hailigenn oder der cristenlichenn ordnung gemacht were/ das möcht mann durch kaißerlichen beuelch [Befehl] nemmen vnnd verbrennen/ vnd den selben iuden darumb straffen das er es nit selbs zerrissen verbrennt oder vndergetruckt [unterdrückt] hett/ das bedunckt mich gegründt sein inn den rechten/ des ersten da geschriben stat [steht] in [l.Lex cornelia.§. Si quis librum.ff.de iniur.] nemlich also, Ob ainer ain büch ainem anndern zů vneere [Unehre] schmach oder schannde hette geschriben gemacht oder aus geben/ oder durch argen list verschafft hette das deren ains geschehen were/ vnd ob er gleich das in aines anndern namen lies auß gon [ausgehen] oder on ainichen namen wie dann sollich ansprach gebürt für zenemmen. Hat der Senat gewalt durch peinlich [IIv] clag iudiciorum publicorū die selb sach straffen. Darnach kommet ain ander kaißerlich recht [l.i.C. de famos.lib.] das spricht also. So ainer ain schätliche schmochliche geschrifft es sy zů haus oder an der offen stras oder an welchē orten es welle/ vnwussentlich findt der sol sie entweder zerreissē ee [ehe] ain ander dar über kom/ oder sol nyeman dar von sagen. Wan er aber nit gleich von stund an sollich brieue [Brief] oder bücher zerrissen oder verbrent sunder sein inhaltung ainem andern geoffnet hat/ so sol er wissē das er als ain selbs stiffter dißer überltat mit pynlicher vrtail sol gestrafft werden. Doch ist dz wol war ob ainer seiner aigen pflicht vn gemaines nutz bewarūg můst tragen so sol er sein angeben offentlich dar thün/ Vnd was er im hette gemaint durch ain schmechlich geschrifft zů durchechten gebürn/ das mag er mit müd vssprechē/ also dz er on all forcht her für trett [hervortrete] vnnd sol das wissen/ wa der glaub der warhait synen reden zů statten kumbt/ so wirdt er gros lob vnnd nit klainem lon von vnßer maiestat erlangen/ wan er aber sölchs nit mag erweißē war sein/ so wirt er sein haubt darumb verlieren/ dannocht sol die selb geschrifft ains andern gůtten leümbden kains wegs verletzen. Aus diesen zwayen kaißerlichen satzungen vnnd rechten clarlich erscheint/ das ain schmach büch soll vnder getruckt/ abgethon vnd verbrent/ vnnd wer das nit tette hertigklich [herzlich] darumb gestrafft werden/ vnnd nichtz destminder mag man im sollich schmach bůch nēmen vnd verbrennen/ ob er es selbs nit verbrent oder zerrissen hette. Doch nit anders dan nach gnügsamer verhörung/ vnd rechtmessiger ergangner vrtail/ als das geschirben recht spricht nemlich also: Nit gleich vō stund nach dem ainer inn gefengknus gefüert ist sol man im das syn nemmen/ sunder nach dem vnnd die vrtail wider in gangen ist/ das hat kaißer Adrianus selig schrifftlich gesetzt vnnd geordnet [l.ii.ff.de bo.damnat.]
So vil sei gesagt von den schmachbůchern die ich am letsten tail der iuden bůcher angezaigt hab/ Dar inn nit anders gehandelt wirt dan wie mit ainem yeden cristen in der gleichen sach gehandelt soll werden/ nach de bayd secten on mittel glider des hailigen reichs vnnd des kaißerthumß burger synd/ wir cristen durch vnser churfürsten wal vnd kur/ vn die iuden durch ir verwilligung vnnd offen bekanntnus/ als sy gesprochen hond/ Wir haben kainen künig dan den kaißer. Johan [IIIr] .xix. hierumb so bindent kaißerliche recht cristen vnd iuden ieglichs nach seiner gestalt.
Transkription: A. Siluk
Quelle: Johannes Reuchlin, "Augenspiegel", Tübingen: Thomas Anshelm 1511
Eine Übersetzung des Textes findet man bei: Johannes Reuchlin, Gutachten über das jüdische Schrifftum, hrsg. und übers. von Antonie Leinz-v. Dessauer, Konstasnz 1965.
Aufgabe:
1. Wie unterscheidet sich Reuchlins Formulierung dessen, was seine Aufgabe ist, vom kaiserlichen Auftrag (vgl. Dokument Nr. 4)?
2. Wie versucht sich Reuchlin vor möglichen Beschuldigungen schützen?
3. Reuchlin legt einige Grundsätze zugrunde, bevor er mit der Untersuchung beginnt. Was sind diese Grundsätze?
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