Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Marburg zur hygienischen Bedeutung der Wohnungsfrage und Besatzungsfrage an den Staatspolitischen Ausschuß, 10. 12. 1945
Die hygienische Bedeutung der Wohnungsfrage und Besatzungsfrage in Marburg [79]
Im Zusammenhang mit der geplanten militärischen Dauerbesatzung Marburgs wurde in einer Sitzung der antifaschistischen Parteien zusammen mit den Vertretern der Stadt und der Universität Marburg der Dekan der Medizinischen Fakultät gebeten, die Auswirkung auf das öffentliche Gesundheitswesen, besonders mit Hinblick auf die Wohnungsverhältnisse und ebenso mit Hinblick auf die öffentlichen Krankenanstalten zu prüfen. Dies geschah in eingehenden Beratungen mit den maßgebenden Hygienikern der Stadt, nämlich mit Professor Dr. Hans Schmidt als Direktor des Hygienischen Instituts und der Behring-Werke und mit Professor Dr. Schenck als leitendem Amtsarzt. Es ergaben sich dabei folgende Gesichtspunkte.
1.) Krankenanstalten
Für die Unterbringung einer dauernden Garnison von 3000 Mann würde die militärische Belegung der Landesheilanstalt nach dem Urteil des Bauamtes unumgänglich sein. Kann diese Anstalt für eine Reihe von Jahren entbehrt werden? Es sind zwar durch die Tötung einer größeren Anzahl von Geisteskranken durch die berüchtigte Aktion der nationalsozialistischen Partei in den Heilanstalten freie Plätze entstanden. Dieser Ausfall wird aber aufgewogen nicht nur durch die ständig neu hinzukommenden Psychosen, sondern vor allem auch durch einen großen Bettenbedarf für nichtgeisteskranke, chronisch Sieche (Rückenmarkskrankheiten, schwere Gelenkerkrankungen, Lähmungen, Altersschwäche usw.). Durch die Zerstörung vieler Krankenhäuser und die Unmöglichkeit häuslicher Pflege bei den jetzigen Wohnungsverhältnissen ist eine akute Notlage entstanden, die sich auf das ganze öffentliche Gesundheitswesen zunehmend auswirkt. Die Krankenhäuser können die chronischen Fälle nicht rechtzeitig abgeben; dadurch stockt die Aufnahme von neuen Erkrankungen. Außerdem sind viele Privatsanatorien militärisch beschlagnahmt, wodurch die staatlichen Heilanstalten zusätzlich belastet werden. Nimmt man dies alles zusammen, so werden die staatlichen Heilanstalten in absehbarer Zeit wieder gefüllt sein, und der Ausfall der großen Landesheilanstalt Marburg wird sich alsdann auf die öffentliche Gesundheit und Sicherheit schwierig auswirken, vor allen, was die Internierung gefährlicher Geisteskranker und die gerichtlichen Fälle betrifft.
Will man aber trotzdem die Heilanstalt militärisch belegen, so wäre jedenfalls die gleichzeitige Beschlagnahme des Ortenbergviertels nicht durchführbar. Den Mittelpunkt desselben bildet die Universitäts-Nervenklinik, die alsdann in weitem Umkreis die einzige noch vorhandene Möglichkeit darstellt, Psychosen unterzubringen, und die auch wegen ihrer störenden Kranken und ihrer baulichen Spezialeinrichtungen nicht in ein anderes Krankenhaus verlegt werden kann; die aber außerdem für den medizinischen Universitäts-Unterricht und als bekannte internationale Forschungsstätte unentbehrlich ist. Auch die Wohnhäuser des Ortenbergviertels könnten wohl nicht geschlossen beschlagnahmt werden, da ein Teil des Ärzte- und Pflegepersonals aus dienstlichen Gründen auf Wohnungen in der Nähe der Klinik angewiesen ist.
2.) Das Wohnungsproblem in hygienischer Beleuchtung
Macht schon die Kasernierung von 3000 Mann Besatzungstruppen erhebliche Schwierigkeiten für das öffentliche Gesundheitswesen, so gilt dies noch mehr für die Beschaffung der für die Militärfamilien angeforderten Privatwohnungen. Es darf dabei keinesfalls ausgegangen werden von der augenblicklichen Belegung der Stadt, die als Obergang vom Kriegs- zum Friedenszustand schon hygienisch bedenklich genug ist, aber für einige Monate durchgehalten werden konnte. Es muß vielmehr jetzt eine sorgfältige Dauerplanung auf längere Sicht erfolgen, nicht mit Rücksicht auf irgendwelche Bequemlichkeit, wohl aber mit Rücksicht auf gewisse elementare Grundforderungen der Wohnungshygiene. Würde man das nicht tun, so würden die Besatzungstruppen zuletzt in Leben und Gesundheit nicht weniger gefährdet sein als die Zivilbevölkerung.
Die jetzige Art der Belegung der Stadt entspricht den hygienischen Forderungen in keiner Weise. Eine große Zahl von Menschen, sowohl Studenten wie sonstigen Zivilisten, lebt gesundheitsschädlich in Noträumen, die nicht beheizbar und die häufig weder mit Küchenräumen noch mit ausreichenden Aborten und Waschgelegenheiten, öfters auch nicht mit Betten versehen sind. Die beim Abzug der mobilen Truppen frei werdenden Häuser sind in ihrem jetzigen Zustand öfters nicht mehr hinreichend bewohnbar. Wie Besichtigungen durch den Amtsarzt ergaben, enthalten sie öfters keine genügenden Möbel, keine Betten und Ofen, manchmal fehlen auch benutzbare hygienische Einrichtungen. Versucht man also jetzt, ein geschlossenes Wohnviertel für die endgültige Besatzung frei zu machen, so finden die herausgesetzten Bewohner keineswegs in anderen Stadtviertein eine genügende Zahl von hygienisch brauchbaren Wohnungen. Durch das Fehlen der Heizung werden in diesem Winter mit größter Wahrscheinlichkeit noch außerdem eine große Menge von Frostschäden an Wasserleitungen, Heizröhren und Closets entstehen, die unter den heutigen Verhältnissen nicht in nötigem Umfang und in der nötigen Zeit repariert werden können.
Die Hygieniker befürchteten schon in diesem Sommer eine Erschöpfung der Wasser- reservoire der Stadt; bei erneuter größerer Einquartierung könnte in trockenen Sommern hieraus eine katastrophale Seuchengefahr erwachsen.
Auf dieser Basis muß das Seuchenproblem überhaupt für die kommenden Jahre mit dem größten Ernst betrachtet werden. Bricht eine Seuche aus, so ist bei der jetzigen Belegungs- dichte der Stadt eine wirksame Seuchenbekämpfung unmöglich. Dies gilt auch für den Fall, daß nach Abzug sämtlicher mobiler Truppen bei gleichzeitigem Hinzukommen der geplanten Dauerbesatzung die statistische Bevölkerungszahl sich auf dem Papier etwas verringern sollte; die effektive Zahl hygienisch brauchbarer Wohnungen wird sich trotzdem prozentual schwerlich vergrößern, infolge des Defizits an Betten und sanitären Einrichtungen in vielen beschlagnahmt gewesenen Wohnungen. Ein hygienisch vertretbarer Zustand der Stadt könnte vielmehr in nächster Zeit nur erreicht werden, wenn die durch Bombenschäden reduzierte, durch Studenten und Flüchtlingszuwanderung ohnehin überfüllte Stadt nach Abzug der mobilen Truppen durch Neubelegung von Wohnraum nicht mehr in größerem Umfang beeinträchtigt würde.
Bricht aber anderenfalls eine Seuche aus, so kann sie wirkungsvoll nicht mehr bekämpft werden; denn der Isolierraum in den Krankenhäusern ist eng begrenzt; in den überfüllten, unhygienischen Wohnungen aber ist jeder Masseninfektion Tür und Tor geöffnet und eine wirksame Isolierung Kranker ausgeschlossen.
Drohen denn überhaupt Seuchen? Diese Frage kann nach den bereits jetzt gemachten Erfahrungen und auf Grund ähnlicher Lebensverhältnisse in den Jahren 1917 bis 1923 mit großer Wahrscheinlichkeit beantwortet werden.
Im Winter ist die Gefahr bösartiger Grippe-Epidemien in dichte Nähe gerückt und durch das Zusammenwirken von Kälte- und Nährschäden bei der eng zusammengedrängten Bevölkerung fast unvermeidlich. In den Jahren nach 1917 entstanden ganz bösartige Grippe-Epidemien von großer Ansteckungskraft, die durch foudroyante Lungenentzündungen große Bevölkerungsgruppen in kurzer Zeit tödlich hinweg rafften. Von der Bevölkerung wurden sie deshalb als "Pest" bezeichnet. In derselben Zeit entstand auch die gefürchtete sog. "Gehimgrippe" (Encephalltis epidemica Economo), als deren Folge heute noch viele körperlich und geistig verkrüppelte Menschen zu sehen sind.
Sodann ist mit einer wesentlichen Ausbreitung und Verschlimmerung der Tuberkulose zu rechnen, die gerade durch die enge Zusammendrängung von Menschen in unhygienischen Wohnungen einen besonders günstigen Boden findet.
Endlich ist die Flecktyphus-Gefahr für die kommenden Winter besonders ins Auge zu fassen. Nach den Feststellungen des Amtsarztes schlafen zahlreiche Menschen ohne Betten und ohne Wäschewechsel in ihrem Anzug; dadurch findet das eingeschleppte Ungeziefer, das den Flecktyphus überträgt, besonders günstige Lebensbedingungen.
Für den Sommer ist in den nächsten Jahren die Möglichkeit des Aufkommens großer Ruhr- und Typhus-Epidemien besonders ernst zu nehmen. Es hat sich schon in diesem Sommer gezeigt, daß ausgebreitete Ruhrinfektionen in Marburg dauernd bis zum Herbst fortliefen und nicht ausgerottet werden konnten. Dabei war die bisherige Ruhrepidemie nach Schwere und Umfang noch relativ harmlos. Seuchen dieser Art sind aber in ihrer Virulenz unberechenbar und können im nächsten Jahr schon ganz gefährliche Grade mit massenhaften Todesfällen annehmen. Dasselbe gilt auch vom Typhus. Gerade diese Darm-Infektionen werden in den künftigen Sommern durch die unzulänglichen Abort-, Wasser- und Küchen- verhältnisse vieler Notwohnungen eine schwere Bedrohung bilden und durch Verschmierung, Fliegenübertragung usw. die ganze übrige Bevölkerung mit Einschluß der militärischen Besatzung ebenso ständig bedrohen, wie die Grippe- und Gehirngrippe-Epidemien des Winters.
Daneben soll auch die in Amerika mit Recht hoch bewertete psychische Hygiene noch kurz berührt werden. Der Nervenarzt sieht zur Zeit im Zusammenhang mit dem Wohnungselend wieder ein Ansteigen der reaktiven Depressionen, der paranoiden Entwicklungen, der Kurzschlußreaktionen und der Neurosen, wie dies auch nach dem ersten Weltkrieg der Fall war. Diese Einzelerkrankungen sind als Signale eines bedenklichen psychischen Gesundheitszustandes der Gesamtbevölkerung zu bewerten. Menschen, deren vitale Grundbedingungen unter ein gewisses Minimum sinken, sind stets als gefährdet zu betrachten, psychisch nicht mehr richtig zu lenken, und stets bereit, auch politisch in gefährliche Radikalismen und explosive Unbesonnenheiten zu verfallen. Die leitenden Persönlichkeiten der Universität und Stadt Marburg sind sich ihrer Verantwortung voll bewußt und stets am Werk, die Studenten und die Bevölkerung in gutem Einvernehmen mit der amerikanischen Militärregierung zu einer ruhigen, besonnenen und friedliebenden, im echten Sinne demokratischen Haltung zu erziehen. Auch diese Bemühungen werden nur von Erfolg begleitet sein, wenn der vitale Standard, der besonders eng mit der Wohnungsfrage zusammenhängt, nicht unter einen bestimmten Punkt sinkt.
Die wenigen, noch einigermaßen unzerstörten Städte Deutschlands dürften auch im internationalen Interesse nicht zu Seuchenherden werden; sie müßten vielmehr die Zentren für die allmähliche materielle und geistige Reorganisation und Wiedergesundung des deutschen Volkes bilden.
Zusammenfassend ist es die Bitte der verantwortlichen ärztlichen Instanzen, die sich mit Stadt und Universität darin einig wissen: die amerikanische Militärregierung möchte erwägen, wie die geschilderten Gefahren abgewendet werden könnten, und, wenn irgend möglich, die Belegung Marburgs mit einer größeren Garnison vermeiden. Vor allem aber ist es unsere ernste und vertrauensvolle Bitte, von einer Beschlagnahme des ohnehin stark eingeengten Privatwohnraums der Zivilbevölkerung absehen zu wollen. Unter gesundheitlichen Gesichtspunkten könnte ein etwa auftretender Bedarf an Wohnungen hier und andernorts wohl nicht mehr durch Rückgriff auf die Restbestände an Häusern und Einrichtungen, sodern wohl nur noch durch rasche Erstellung praktischer Neubauten gedeckt werden.
Anmerkungen:
[79] Dekanat der Medizinischen Fakultät der Universität Marburg an den Staatspolitischen Ausschuß, 10. 12. 1945. SPA-Akten, Magistratsarchiv Marburg
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