Abt Heinrich von Hohenberg, Dekan Dietrich und der Konvent des Stifts zu Fulda bestätigen den Schöffen und den Bürgern der Stadt Fulda, dass zur Abwendung der Pest jährlich am Vorabend des Festes Maria Himmelfahrt (14. Aug.) eine Prozession auf den Frauenberg stattfinden kann. Am gleichen Tag reichen die Schöffen und die Bürger den armen Menschen in der Stadt jeweils ein Brot und ein Stück Fleisch.
(Die Urkunde ist eingebunden in eine Akte des 19. Jh., die Listen mit den Namen der Beschenkten aus den Jahren 1703, 1717, 1743, 1747, 1748, 1762 und 1813 enthält)
Wir Heinrich von gots gnaden apt zů Fulde , Dytherich techant und gantzer convent des selben stiftes zu Fulde bekennen offinlichen an diesem brieve allen den, die in sehen oder horen lesen, daz unsere lieben scheffen und burgere gemeinlichen unser stat zů Fulde haben gemachet und gesagt mit unserm gůten willen, wizzende, wort vnd furhengnisse ewecliche zů bestene und zů bliben důrch lob und ere unser frowen von hymelriche zu flehene und zů bitin gote unserm herre umbe abelaze und abewende daz grozzen sterben, daz da gewest ist und noch ist, in der vorgenanten stat zů Fulde und důrch heil und důrch trost aller der sele, die do in dem selben sterben fůrscheiden sin und aůch důrch trost und heil zů sele vnd zů libe der, die zů Fulde itzůnt siczen oder immer siczende werden und bie namen der, die ire almůsen hie zů gegeben haben oder noch geben, daz sie die stat scheffen und burgere gemeinlichen zů Fulde eweclich alle jar je uf unser frowen abende assumpcionis geben sullen zů Fulde in der stat, welchen ende sie daz gůt důncket, jeclichem armen menschen, daz daz důrch got und durch unser frowen von hymelrich nemen wil, ein brot, das eins pfheninges wert sie und ein stůcke fleisches, daz auch eins pheninges, als je zů Fuld pfheninge gein wert sin, und daz sie auch ewechlichen alle jar uf den vorgenanten unser frowen abende gen sullen gemeinlichen mit kerczen, mit schonheit und mit andacht, so sie gotlicher und beste můgen uf unser frowen berg bie Fuld mit der processien (!) ir zů folgene, die unser herren und die pfhafheit zů Fuld tůn uf der selben tag uf unser frowen berg da selbes.
Diese vorgeschriben gemechede und gesetze, als sie gemachet und gesatzt sin, mit vnserm willen und wizzende von den vorgenanten unsern bůrgern zů Fuld eweclichen zů bestende und zů bliben, haben wir besteteget důrch mere sicherheit mit gantzer wizzende und bestetegen mit diesem brieve, den wir mit unserm apt Heinrich und des conventes des stiftes zů Fuld vorgenantem insigele zů urkůnde dirre vorgeschriben ding haben fůrsigelt. Und wir scheffen vnd burgere gemeinlichen zů Fuld vorgenante bekennen fůr uns und fůr unsere nachkůmelinge alle dirre vorgeschriben dinge, gesetze vnd gemechede, als sie geschriben sten eweclichen zů bestene und zů halden von uns und von unsern nachkůmelingen und hencken des zů urkůnde und zů festekeit unser stat insigel zů Fůld zů unsers herrn von Fuld und unser herren des stifts da selbes insigele an diesen brief, der gegeben ist, da man zalte nach Crists gebůrte drůzehen hůndert jar in dem fůmfzegesten jare an sante Laurencien abende.
Neuhochdeutsche Übertragung
Wir Heinrich von Gottes Gnaden Abt zu Fulda, Dietrich Dekan und der gesamte Konvent des Stifts zu Fulda bekennen öffentlich mit dieser Urkunde all denen, die diese sehen oder vorgelesen hören, dass unsere lieben Schöffen und alle Bürger unserer Stadt Fulda mit unserem Willen, Wissen und Zustimmung gemacht und zugesagt haben, ewig jedes Jahr am Vorabend des Festes Mariae Himmelfahrt in der Stadt Fulda jedem armen Menschen ein Brot und ein Stück Fleisch, jeweils im Wert von einem Pfennig nach Fuldischer Währung zu geben. Sie tun dies zum Lob und Ehre der Jungfrau Maria und um Gott unseren Herrn um Ablass anzuflehen und zu bitten, das große Sterben in Fulda, das gewesen war und noch ist, zum Heil und zum Trost aller Seelen derjenigen, die in dem Sterben verschieden sind, aber auch zum Trost, zum Heil und zur Liebe derer, die in Fulda noch leben oder leben werden und im Namen derer, die ihre Almosen gegeben haben oder noch geben werden, abzuwenden. Sie haben auch bestimmt, dass sie jedes Jahr auf den genannten Vorabend des Frauentags gemeinsam mit Kerzen, Pracht und Andacht, so gottselig und gut sie das können, auf den Frauenberg bei Fulda der Prozession, die unsere Stiftsherren und Priester am selben Tag unternehmen, folgen.
Diese Bestimmungen haben wir mit unserem Willen und in dem Wissen, dass unsere Bürger zu Fulda diese ewig haben wollen, mit dieser Urkunde bestätigt und besiegelt, zusammen mit dem Siegel des Abtes Heinrich und dem des Konvents.
Und wir, die Schöffen und die Bürger zu Fulda bekennen für uns und unsere Nachkommen, all die genannten Gesetze und Bestimmungen, so wie sie geschrieben stehen, ewig zu halten und hängen zum Beweis und zur Festigkeit das Siegel unserer Stadt Fulda neben das unseres Herrn und das des Stifts an diese Urkunde, die gegeben wurde als man zählte nach Christi Geburt dreizehnhundert Jahre und in dem fünfzigsten Jahr am Vorabend des Heiligen Laurentius.
Erläuterung
Mitte des 14. Jahrhunderts wurde fast ganz Europa von einer fürchterlichen Pestepidemie heimgesucht. Etwa 20 Millionen Menschen, ein Drittel der europäischen Gesamtbevölkerung, fielen nach groben Schätzungen der Seuche zum Opfer. Auch Fulda wurde nicht verschont. Nach einer Meldung des Chronisten Christoph Brower, der allerdings erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts seine Geschichte der Abtei Fulda schrieb, sollen in der Stadt 3.000 Menschen ums Leben gekommen sein. Die Zahl ist sicherlich zu hoch gegriffen, da Fulda zu dieser Zeit höchstens ebenso viele Einwohner zählte. Dennoch waren der Tod und das Gefühl der Bedrohung allgegenwärtig. Da die Ursache der Krankheit zu jener Zeit gar nicht bekannt und somit das Problem medizinisch nicht zu lösen war, wurden andere Wege gesucht, den „schwarzen Tod“ zu bekämpfen. Man erflehte göttlichen Beistand, der – so die Vorstellung – am besten durch Taten der Fürsorge und Nächstenliebe zu gewinnen war. Es war daher nahe liegend, dass die Bürger der Stadt zur Abwendung des „großen Sterbens“ eine Stiftung für die Armen errichteten und dabei ausdrücklich festlegten, dass diese ewig bestehen sollte. Jedes Jahr am Vorabend von Maria Himmelfahrt (14. August) sollten alle städtischen Armen ein Brot und ein Stück Fleisch im Wert von zwei Pfennig erhalten. Dies war zwar nicht üppig, doch immerhin ein Zeichen des guten Willens. Zudem riefen die Bürger auch noch eine ewige Prozession auf den Frauenberg zusammen mit der gesamten Fuldaer Geistlichkeit ins Leben, ein Brauch, der zwar nicht ewig, aber doch bis zum Jahre 1968 währte.
Ein Stück Brot und etwas Fleisch gab es da schon lange nicht mehr. Wohltaten in Form von Naturalien waren bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus der Mode gekommen. und so trat seit dieser Zeit ein kleiner Geldbetrag an deren Stelle. Einen „Böhmischen Groschen“ gab es fortan für jeden Bedürftigen. Bedenkt man, dass ein solcher Groschen knapp drei Pfennige wert war und ein Pfund Fleisch zu dieser Zeit schon 10 Pfennige kostete, war die Verteilung der Spende doch eher ein symbolischer Akt. Immerhin hatte das Ganze doch einen angenehmen Nebeneffekt: der Kreis der Beschenkten war zwischenzeitlich enorm angewachsen. Es handelte sich hierbei aber nicht um die Armen, sondern um die bei der Prozession und der Austeilung der Spenden beteiligten Offiziellen. Die Geringverdienenden wie die Stadtknechte oder die Stadttürmer erhielten eine Entlohnung in Geld, während die Franziskaner auf dem Frauenberg, der Stadtpfarrer und die Bürgermeister mit Wein entlohnt wurden. Aus einer Aufstellung des Jahres 1731 über die Kosten der Spendenausteilung geht hervor, dass von den verausgabten 271 Böhmischen Groschen gerade einmal 53 Groschen an die Armen flossen, der Löwenanteil ging an die Helfer. Zudem wurden noch 32 Maß Wein an die Honoratioren ausgeschenkt. Dies war den beiden Bürgermeistern und dem Stadtsyndikus, die insgesamt 6 Maß erhielten, aber nicht genug. Sie waren besonders dreist und ließen sich zusätzlich noch jeweils 1 ½ Gulden (entspricht 63 Groschen) als Aufwandsentschädigung auszahlen. Damit erhielt jeder von ihnen mehr Geld als alle Armen der Stadt zusammen genommen. Der Betrag hierfür kam übrigens nicht mehr aus Spenden zusammen. Man nahm es ganz einfach aus der Stadtkasse.
Die Pestsäule am Frauenberg, zu der bis zuletzt die Prozession führte, dürfte identisch sein mit der unter Fürstabt Joachim von Gravenegg im Jahre 1647 errichteten Mariensäule, die zunächst südlich der Stiftskirche stand. Nach dem Westfälischen Frieden wurde sie an die heutige Stelle versetzt und mit Inschriften versehen, die an das Ende des Dreißigjährigen Krieges und an die 300 Jahre zuvor überstandene Pestepidemie erinnern.
Literatur:
Aloys Jestaedt, Zum 600jährigen Jubiläum der Pestwallfahrt zum Frauenberg am Vorabend von Maria-Himmelfahrt (Typoskript im StadtAFd); Kratz, 2009.
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