Hessen Loewe
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Verfolgung der Sinti und Roma in Hessen von der frühen Neuzeit bis nach dem II. Weltkrieg (im Aufbau)
 «  1. Herkunft, verweigerte Aufnahme in die Gesellschaften und Versuche der "Ausrottung"  » 

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1. Herkunft, verweigerte Aufnahme in die Gesellschaften und Versuche der "Ausrottung"

Bild Ausstellungsraum: 816.jpg
Wege der Sinti und Roma nach Europa

Die verweigerte Aufnahme

Sinti und Roma stammen ursprünglich aus Indien. Sie wanderten, wie Sprachwissenschaftler schon im 18. Jahrhundert ermittelt hatten, seit 8. Jahrhundert über Griechenland und den Balkan nach Mittel-, West- und Nordeuropa. Hintergrund war kein – ihnen oft unterstellter – Wandertrieb, sondern sie waren durch Kriege, Verfolgung, Vertreibung oder aus wirtschaftlicher Not dazu gezwungen. Die Migration der Sinti und Roma von Indien bis nach Mitteleuropa dauerte über 500 Jahre. Eine Zwischenstation nahmen Teil der Gruppe offenbar auf dem Peloponnes, in Modon, das als „Klein-Ägypten“ bezeichnet wurde. Von daher leitet sich der Begriff „gipsy“ in der englischen Sprache ab.
Die Anwesenheit von Sinti in Deutschland wurde 1407 erstmals urkundlich erwähnt. Im Urkundenbuch der Stadt Hildesheim wird eine Personengruppe genannt, die gemeinhin als Sinti wahrgenommen wurde. Im hessischen Raum werden sie 1417 in Frankfurt erwähnt.[1] Für eine als massenhaft empfundene Einwanderung war dies der falsche Zeitpunkt, denn die Zeit des 15. und 16. Jahrhunderts war in Europa eine Zeit des Umbruchs. Entdeckungen und Erfindungen, ein neues Menschenbild, wirtschaftliche Veränderungen, Bedrohungsgefühle und der offensichtliche Verfall der Autoritäten Papst und Kaiser waren Umstände, die eine Integration von  „Fremden“ in die Gesellschaften beinahe unmöglich machten. Diese Gesellschaft war noch ständisch organisiert; sie bestand aus Bauern, die ihren Boden meist noch nicht verlassen durften, aus Städtern, die ihren Ort nicht verlassen wollten und aus Menschen, die mobil sein mussten und die in der Regel nirgendwo ein Niederlassungsrecht hatten. Zu der letzten Gruppe gehörten auch die meisten Sinti. Als christliche Pilger und Büßer wurden sie zunächst geduldet, zum Teil sogar unterstützt. Ein Schutzbrief des Kaisers Sigismund aus dem Jahre 1423 billigte ihr Umherziehen, gestand ihnen – nicht unüblich im Mittelalter - sogar eine eigene Gerichtsbarkeit zu, bot ihnen aber keinen Platz zur Siedlung. 
Die mitteleuropäischen Herrschaften wurden seit dem 15. Jahrhundert durch die Großmachtansprüche des Osmanischen Reiches bedroht. Der Fall des Oströmischen Reiches mit der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die „Türken“ – wie es hieß – belegte dies für viele Zeitgenossen.  Menschen, die offenkundig aus dem Osten nach Mitteleuropa gelangten, waren damit sehr schnell verdächtigt, die Eroberung durch die Türken vorzubereiten. Hinweise darauf, dass die Sinti vor den Türken eher geflohen waren, wurden nicht einmal wahrgenommen.

Die Sinti und Roma waren in Europa die „neuen Fremden“. Sie unterschieden sich von den Einheimischen im Aussehen, in ihren kulturellen Traditionen und durch die Sprache, durch das Romanes. Sie wurden als „Tartaren“, die im 13. Jahrhundert Teile Mitteleuropas verwüstet hatten, als Ägypter oder als „Heiden“ bezeichnet. Ab dem 14./15. Jahrhundert werden sie auch „Cingari” oder „Volk des Pharaos” genannt, ins Deutsche übertragen „Zigeuner”. Sie selbst bezeichneten sich zwar als Christen, wurden aber nicht als solche meist anerkannt. In der sich seit dem 16. Jahrhundert entwickelnden Gesellschaft, die sich in der Wirtschaft immer stärker über abhängige, fremdbestimmte Erwerbsarbeit, Fleiß und Disziplin definierte, waren Sinti und Roma ausgeschlossen. Als Bedrohung empfunden wurden sie reichsweit sehr 1497 beobachtet, ausgegrenzt und schließlich für "vogelfrei" erklärt.

In Hessen folgten die Landgrafen den Reichstagsbeschlüssen, indem sie versuchten, "Zigeuner" von ihrem Territorium fernzuhalten oder zu vertreiben. Der hessischen Landgraf Philipp hatte schon 1524 nicht nur Juden sondern auch „Zigeuner“ als Bedrohung der christlichen Ordnung betrachtet und in seiner bekannten Judenordnung von 1539 auch den „Zigeunern“ den Aufenthalt in seiner Landgrafschaft untersagt.


Absolutismus

Mit den Edikten der hessischen Landgrafen gegen "Zigeuner" wird die lange Reihe von polizeilichen Maßnahmen des Territorialstaates und des absolutistischen Staates begonnen. In den Territorien war kein Platz für abweichendes Verhalten, das Selbständigkeit oder Freiheit versprach. Das bezog sich auf Adlige und ihre Vorrechte, Bürger und ihre selbstbewussten Machtansprüche, aber auch auf alle der sogenannten „Fahrenden“: Es traf aber die Sinti am stärksten, weil sie zum Inbegriff einer unbotmäßigen, unnützen Freiheit wurden. Die Sinti als „Zigeuner“ dienten in vielen Edikten der absolutistischen Herrscher als negatives Bild für den realen, aber nicht akzeptierte Zustand der Gesellschaft, als Ausdruck der Herrschaftslosigkeit. Die scheinbare „Freiheit“ der nicht ortsgebundenen Menschen, seien sie Christen oder Juden, Landsknechte oder Kleinhändler, Künstler oder eben Sinti widersprach den Vorstellung von Ordnung seit dem 16. und 17. Jahrhundert. Alle diese Menschen sollten zu gehorsamen und arbeitsamen Untertanen gemacht werden. Die absolutistischen Herrschaften gingen deshalb rigide gegen alle Abweichungen von ihren politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen vor.

Mit dem Mittel der guten „Policey“ sollten schließlich die „Zigeuner" beseitigt oder "ausgerottet werden, das heißt ihre Rotte, ihr Gruppenzusammenhalt, sollte zerstört werden. In Einzelfällen war der Begriff der „Ausrottung“ auch als Eliminierung der Individuen verstanden worden. Die Brandmarkung - Einbrennen eines Zeichens oder Buchstabens auf die Haut - war eine Möglichkeit zur Kennzeichnung der „Zigeuner”. Ein zweites Auftreten als „Zigeuner“ in der Region konnte den Tod bedeuten.

Zur Abschreckung wurden zudem von Gemeinden sogenannte „Zigeunerstöcke” aufgestellt, das waren zum Teil Galgen mit einer Tafel, auf der zu lesen war: Straff für Zigeuner.

 

Die Aufklärung

Im Zeitalter der Aufklärung versuchten Philosophen und Politiker der Vernunft zum Durchbruch zu verhelfen. Das Ziel der permanenten Verbesserung oder Zivilisierung des Menschen, nicht zuletzt über Erziehung, stand auf der Tagesordnung. Die angebliche „bürgerliche Verbesserung“ für Frauen, Juden und „Zigeuner“ bedeutete nicht zuletzt Anpassung an bürgerliche Normen.

Die bedingungslose Anpassung der Minderheit an die Mehrheit wurde von so genannten aufgeklärten, absoluten Herrschern – wie Kaiser Joseph II. – versucht. Sie scheiterte unter anderem bei den Sinti und Roma, weil die Familien auseinandergerissen und ihre Muttersprache verboten wurden.

Das hatte zur Konsequenz, dass die Kommunikation der Minderheit mit der Mehrheitsbevölkerung in der Regel auf ein Minimum reduziert und dass das Zusammengehörigkeitsgefühl der Minderheit wurde gestärkt beziehungsweise notwendig wurde, um als Gruppe überleben zu können.

Die Maßnahmen gegen die Sinti und Roma blieben ohne die erwartete Wirkung, denn die Unterdrückung durch das Militär und die entstehende Polizei war lückenhaft. Die Politik der Zwangsansiedlung scheiterte. Die deutschen Kleinstaaten suchten fortan ihre „zigeuner“feindlichen Bestimmungen zu erweitern und die polizeilichen Kontrollen zu verstärken.

Die Aufklärung oder besser einige Wissenschaftler, die sich der Aufklärung verpflichtet sahen, legten auf Grund dieser Erfahrungen schließlich die Grundlage für den rassistischen Antiziganismus.  Die „Experten“ aus der Wissenschaft, selbsternannte „Zigeunerexperten“ begannen  pseudowissenschaftlich über die Sinti und Roma zu schreiben. Als Beispiel wird auf Heinrich Moritz Gottlieb Grellmann  (1756 – 1804), Professor in Göttingen, verwiesen. Er gilt im deutschen Sprachraum als der erste wissenschaftliche „Zigeunerforscher“ oder „Zigeunerwissenschaftler“.

Vor Grellmann waren schon Richter, Staatsanwälte und auch Philosophen aktiv bei der Suche nach dem „Wesen der Zigeuner“. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen wurden veröffentlicht, gelesen und nicht zuletzt in Lexika zusammengefasst, so dass jeder wusste, was ein „Zigeuner“ ist, welche Eigenschaften er hat, ohne jemals Kontakt zu Sinti und Roma gehabt zu haben.

 

s. hierzu sehr ausführlich und quellennah: Ulrich F. Opfermann: „Seye kein Ziegeuner, sondern kayserlicher Cornet.“ Berlin 2007




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