Mit der Wiedergewinnung der vollen Souveränität wächst uns Deutschen nicht nur mehr Handlungsfreiheit, sondern auch mehr Verantwortung zu. So sehen es auch unsere Partner in der Welt. Sie erwarten vom vereinten Deutschland, daß es dieser neuen Rolle gerecht wird. Es geht dabei überhaupt nicht um nationale Alleingänge oder gar Machtambitionen; denn für uns gibt es auf dieser Welt nur einen Platz: in der Gemeinschaft der freien Völker. Gefordert sind jetzt mehr denn je Vernunft und Augenmaß und vor allem auch das Festhalten an den Zielen, die wir uns vorgenommen haben. Wir alle wissen, wir stehen am Beginn eines langen und auch beschwerlichen Weges:
- Wir wollen Deutschland zusammenführen, und zwar in jeder Hinsicht: geistig, kulturell, wirtschaftlich und sozial.
- Wir wollen mitwirken am Bau einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für Europa, die alle Völker unseres so lange geteilten Kontinents in gemeinsamer Freiheit zusammenführt.
- Wir wollen an einer Weltfriedensordnung mitarbeiten, die auf die Herrschaft des Rechts gegründet ist: auf die Achtung der Menschenrechte und des Selbstbestimmungsrechts aller Völker sowie auf den gemeinsamen Willen zur Bewahrung der dem Menschen anvertrauten Schöpfung ...
Über vier Jahrzehnte hinweg mußten die Deutschen in Ost und West ihr Leben unter ganz unterschiedlichen Bedingungen gestalten. Wohlverhalten und offener Widerspruch, Anpassung und innere Emigration, Selbstverleugnung aus Angst vor Gefährdung der eigenen Zukunft, der Zukunft der Familie und im Beruf, dies alles waren Verhaltensweisen und Erfahrungen unter dem SED-Regime. Jene Deutschen, die das Glück hatten, in dieser Zeit auf der Sonnenseite unseres Landes und unserer Geschichte in Freiheit in der Bundesrepublik leben zu dürfen, haben diese bitteren Erfahrungen nicht machen müssen. Sie sollten sich vor Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit hüten. Wir müssen gerade vor denjenigen Landsleuten höchsten Respekt bezeugen, die ihren unbeugsamen Freiheitswillen bekundeten und oft Schlimmes erdulden mußten.
Wir müssen aber auch Verständnis dafür haben, daß manche in über 40 Jahren Diktatur ohne große Hoffnung auf Veränderungen versuchten, im Privaten ihr Glück zu finden. Wir alle wissen, daß dies oft nur unter Kompromissen möglich war. Die Diktatur der SED hat gerade auch in den Herzen der Menschen Wunden geschlagen. Gezielt versuchten die kommunistischen Machthaber, Menschen gegeneinander auszuspielen, Vertrauen zu zerstören und Haß zu säen. Wir dürfen jetzt nicht zulassen, daß noch im nachhinein die Saat der SED aufgeht. Wir müssen unbeirrt den Weg des Rechtsstaates gehen; auch wenn mancher aus seiner bitteren Erfahrung dies nicht sofort versteht. Denn nur im Rechtsstaat verbindet sich die Forderung nach Gerechtigkeit mit dem Willen zum inneren Frieden…
Dabei bleibt unser Kernziel die politische Einigung Europas. Natürlich wissen wir alle daß die Europäische Gemeinschaft nicht das ganze Europa ist. Deshalb muß die Gemeinschaft grundsätzlich für andere europäische Länder offen sein ....
Die Gemeinschaft wird auf diese Weise zum Kristallisationspunkt für das Europa der Freiheit, für die Vereinigten Staaten von Europa…
Unverzichtbarer Sicherheitsverbund zwischen Europa und Nordamerika und bleibt die Nordatlantische Allianz. Zwar hat der politische Wandel in Europa die Konfrontation zwischen Ost und West abgebaut, und die Sicherheitslage auf unserem Kontinent hat sich trotz verbleibender Risiken spürbar verbessert; gleichwohl ist das Bündnis, dem gerade wir, die Deutschen, so viel verdanken, in keiner Weise überf1üssig geworden. Man kann nicht ofl genug daran erinnern: Es war nicht zuletzt das Bündnis, das den Wandel in Europa und in Deutschland entscheidend mit herbeigeführt hat ....
Der neuen Verantwortung gerecht zu werden, erfordert Abkehr von manchen bequemen Denkschablonen der Vergangenheit. Es erfordert Mut zur Zukunft. Mit der Vereinigung unseres Vaterlandes ist Deutschland in eine neue Epoche eingetreten. Nach fast 200 Jahren hat das Ringen um .die politische Gestalt unseres Vaterlandes, um seine innere Ordnung und seinen Platz in Europa zu einem glücklichen Ende gefunden. Zum ersten Mal in der deutschen Geschichte gehen Einheit, Freiheit und friedliches Einvernehmen mit unseren europäischen Nachbarn eine untrennbare Verbindung ein, und dafür sind wir dankbar. Ganz Deutschland hat jetzt die Chance, sein inneres Gleichgewicht, seine Mitte zu finden. Dazu gehört, daß sich auch in Deutschland entfalten kann, was in anderen Nationen selbstverständlich ist: gelebter Patriotismus ein Patriotismus in europäischer Perspektive, ein Patriotismus, der sich der Freiheit verpflichtet…
Es geht jetzt darum, daß das vereinte Deutschland seine Rolle im Kreis der Nationen annimmt - mit allen Rechten und mit allen Pflichten. Dies wird mit Recht von uns erwartet - und wir müssen dieser Erwartung gerecht werden. Es gibt für uns Deutsche keine Nische in der Weltpolitik. Es darf für Deutschland keine Flucht aus der Verantwortung geben. Wir wollen unseren Beitrag leisten zu einer Welt des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit. Das ist unsere Vision: eine neue Ordnung für Europa und die Welt, die auf dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, der Unantastbarkeit der Menschen würde und der Achtung der Menschenrechte beruht. Der Weg dorthin wird beschwerlich sein und - wie wir heute mehr denn je wissen - voller Risiken ja Gefahren. Aber es lohnt sich, ihn zu gehen - zum Wohle der Menschen in Deutschland und in Europa und im Bewußtsein unserer Verantwortung für den Frieden in der Welt. Wir sind dazu bereit!
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