Kritik des rationalen Denkens. Aus Fritjof Capras Buch "Wendezeit", 1988
Unsere Kultur ist überaus stolz auf ihre Wissenschaftlichkeit und bezeichnet unsere Zeit als das Wissenschaftliche Zeitalter. Es wird vom rationalen Denken beherrscht; wissenschaftliche Kenntnisse gelten oft als die einzig annehmbare Art von Wissenschaft. Daß es ein intuitives Wissen oder Bewußtsein geben kann, das genauso gültig und zuverlässig ist, wird im allgemeinen nicht anerkannt. ...
Wie sehr unsere Kultur das rationale Denken bevorzugt, wird in knappster Form an der berühmten Feststellung von Descartes deutlich "Cogito ergo sum" - "Ich denke, also bin ich". Dieser Satz ermutigt den Menschen der abendländischen Kultur, sich eher mit dem rationalen Verstand als mit seinem ganzen Organismus zu identifizieren .... Indem wir uns allein auf unseren Verstand verlassen, haben wir vergessen, wie wir mit unserem ganzen Körper zu "denken" vermögen und wie wir ihn als Vermittler von Wissen nutzen können. So haben wir uns von unserer natürlichen Umwelt isoliert und vergessen, wie wir mit einer Vielfalt von Organismen kommunizieren und kooperieren können.
Die Spaltung von Geist und Materie führte dazu, das Universum als ein mechanisches System zu sehen, das aus getrennten Objekten besteht, die ihrerseits auf fundamentale Bausteine der Materie zu reduzieren sind, deren Eigenschaften und Wechselspiel alle Naturerscheinungen bestimmen. Diese kartesianische Vorstellung von der Natur wurde dann auch auf die lebenden Organismen übertragen, die man als aus getrennten Teilen konstruierte Maschinen ansah ....
Die heutige gesamtgesellschaftliche Krise (ist) eine Folge der Tatsache, daß wir versuchen, die Begriffe einer längst überholten Weltanschauung - des mechanistischen Weltbildes der kartesianisch-Newtonsehen Naturwissenschaft - auf eine Wirklichkeit anzuwenden, die sich mit den Begriffen dieser Vorstellungswelt nicht mehr begreifen läßt. Wir leben heute in einer in allen Aspekten auf globaler Ebene verwobenen Welt, in der sämtliche biologischen, psychologischen, gesellschaftlichen und ökologischen Phänomene voneinander abhängig sind. Um diese Welt angemessen beschreiben zu können, brauchen wir eine ökologische Anschauungsweise, welche das kartesianische Weltbild uns jedoch nicht bietet.
Es fehlt uns also ein neues "Paradigma" - eine neue Sicht der Wirklichkeit; unser Denken, unsere Wahrnehmungsweise und unsere Wertvorstellungen müssen sich grundlegend wandeln.
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.