5. Modernisierungsprozeß und gesellschaftlicher Wandel
Nach dem Ende der Wiederaufbauphase im Übergang zu den sechziger Jahren ist die Bundesrepublik wie viele andere westliche Gesellschaften in eine Phase beschleunigter "Modernisierung" eingetreten. Unter Modernisierung sollen nicht nur die durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik bedingten Veränderungen in den materiellen Produktions- und Lebensverhältnissen verstanden werden, sondern die der Lebensumwelt der Menschen überhaupt. Wesentliche Elemente dieses Modernisierungsprozesses waren:
- die Verwandlung der früheren Mangelgesellschaft in eine Überflußgesellschaft durch ein historisch einmaliges Wachstum der Arbeitsproduktivität;
- die Verschiebung der Erwerbsstruktur von der Industrie- hin zur Dienstleistungsgesellschaft;
- die elektronische Revolution in Form des wachsenden Einflusses, den die elektronische Datenverarbeitung, computergesteuerte Arbeitsprozesse, immer umfassendere Kommunikationsmöglichkeiten und die visuellen Medien auf das Leben der Menschen ausüben;
- die beispiellose Erweiterung der individuellen Moblitätsmöglichkeiten;
- der fortschreitende Ausbau des Sozial-, Bildungs- und Wohlfahrtsstaates, der neue Wahlfreiheiten für alternative Lebenswege mit sich brachte.
Alle diese Basisprozesse haben in ihrem Zusammenwirken zu einem fundamentalen Wandel im Lebensgefühl und im Lebensverhalten geführt, den man schlagwortartig als Individualisierungs- und Emanzipationsprozeß bezeichnen kann und der sich in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen nachweisen läßt. Dazu gehören insbesondere:
- die Veränderungen im generativen Verhalten der Menschen, die seit Mitte der sechzig er Jahre zu einer "säkularen Nachwuchsbeschränkung" geführt hat;
- der Einstellungswandel zu Ehe und Familie, der sie immer stärker dem Anspruch bzw. dem Druck emanzipativer Selbstverwirklichungsziele aussetzt;
- das Aufkommen des Feminismus und der neuen Frauenbewegung seit Anfang der siebziger Jahre;
- der Abbau bzw. der Verfall autoritärer Erziehungsformen in Verbindung mit einer neuen Einschätzung der Stellung des Kindes und Jugendlichen in Familie und Gesellschaft;
- die Aufhebung der einst engen Bindung zwischen Wohnort, Arbeitsplatz und Freizeitraum sowie der scharfen Trennung zwischen Stadt und Land durch die neuen Mobilitäts- und Kommunikationsmittel; - die Zunahme postmaterieller Bedürfnisse in der Bewertung der verschiedenen Lebensbereiche und ein Trend in der Gesellschaft von der Arbeits- zur Freizeitorientierung.
Dieser Modernisierungsprozeß geht allerdings einher mit Entwicklungen, die gerade umgekehrt die Autonomie der Menschen und die Lebensqualität gefährden. Dazu gehören nicht zuletzt die Zerstörung der Umwelt und die wachsenden Risiken der modernen Technik- und Wissenschaftsentwicklung, aber auch psychosoziale Folgeprobleme wie die Zunahme von Suchtanfälligkeit und Kriminalität, von sozialen Aussteigern und gesellschaftlichen Randgruppen. Qualitativ neue, politisch kontrovers diskutierte Probleme für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland resultieren im übrigen aus dem verstärkten Immigrationsdruck von Asylbewerbern und Übersiedlern, dem sich die Bundesrepublik seit den achtziger Jahren und insbesondere nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftsimperiums in Osteuropa im Übergang zu den neunziger Jahren ausgesetzt sieht.
Die Risikogesellschaft als Ergebnis des Modernisierungsprozesses. Stellungnahme von Ulrich Beck, Professor für Soziologie (1986)
In der fortgeschrittenen Moderne geht die gesellschaftliche Produktion von Reichtum systematisch einher mit der gesellschaftlichen Produktion von Risiken. Entsprechend werden die Verteilungsprobleme und -konflikte der Mangelgesellschaft überlagert durch die Probleme und Konflikte, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen ....
In den hochentwickelten reichen Wohlfahrtsstaaten des Westens geschieht nun ein Doppeltes: Einerseits verliert der Kampf um das "tägliche Brot" - verglichen mit der materiellen Versorgung bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein und mit der vom Hunger bedrohten Dritten Welt - die Dringlichkeit eines alles in den Schatten stellenden Kardinalproblemes. An die Stelle des Hungers treten für viele Menschen die "Probleme" der "dicken Bäuche". Dem Modernisierungsprozeß wird damit jedoch seine bisherige Legitimationsgrundlage entzogen: die Bekämpfung des evidenten Mangels, für die man auch so manche (nicht mehr ganz) ungesehene Nebenfolge in Kauf zu nehmen bereit war.
Parallel verbreitet sich das Wissen, daß die Quellen des Reichtums "verunreinigt" sind durch wachsende "Nebenfolgengel1ihrdungen". Dies ist keineswegs neu, blieb aber lange Zeit im Bemühen der Überwinden von Not unbemerkt. Die Nachtseite gewinnt über dies durch die Überentwicklung der Produktivkräfte an Bedeutung. Im Modernisierungsprozeß werden mehr und mehr auch Destruktivkräfte in einem Ausmaß freigesetzt, vor denen das menschliche Vorstellungsvermögen fassungslos steht. Beide Quellen nähren eine wachsende Modernisierungskritik, die lautstark und konfliktvoll die öffentliche Auseinandersetzung bestimmt.
Systematisch argumentiert, beginnen sich gesellschaftsgeschichtlich früher oder später in der Kontinuität von Modernisierungsprozessen die sozialen Lagen und Konflikte einer "reichtumsverteilenden" mit denen einer "risikoverteilenden" Gesellschaft zu überschneiden. In der Bundesrepublik stehen wir - das ist meine These - spätestens seit den siebziger Jahre am Beginn dieses Übergangs. Das heißt: hier überlagern sich beide Arten von Themen und Konflikten. Wir leben noch nicht in einer Risikogesellschaft. aber auch nicht mehr nur in Verteilungskonflikten der Mangelgesellschaft. In dem Maße, in dem dieser Übergang vollzogen wird, kommt es dann wirklich zu einem Gesellschaftswandel, der aus den bisherigen Kategorien und Bahnen des Denkens und HandeIns hinausführt. ...
Auch wenn der politische Ausdruck offen, die politischen Konsequenzen mehrdeutig sind. Im Übergang von der Klassen- zur Risikogesellschaft beginnt sich die Qualität von Gemeinsamkeit zu ändern. Schematisch gesprochen, kommen in diesen zwei Typen moderner Gesellschaften völlig andersartige Wertesysteme zum Durchbruch. Klassengesellschaften bleiben in ihrer Entwicklungsdynamik auf das Ideal der Gleichheit bezogen (in seinen verschiedenen Ausformulierungen von der "Chancengleichheit" bis zu Varianten sozialistischer Gesellschaftsmodelle). Nicht so die Risikogesellschaft. Ihr normativer Gegenentwurf, der ihr zugrunde liegt und sie antreibt, ist die Sicherheit. An die Stelle des Wertesystems der "ungleichen" Gesellschaft tritt also das Wertesystem der "unsicheren" Gesellschaft. Während die Utopie der Gleichheit eine Fülle inhaltlich-positiver Ziele der gesellschaftlichen Veränderung enthält, bleibt die Utopie der Sicherheit eigentümlich negativ und defensiv. Hier geht es im Grunde genommen nicht mehr darum, etwa "Gutes" zu erreichen, sondern nur noch darum, das Schlimmste zu verhindern. Der Traum der Klassengesellschaft heißt: Alle wollen und sollen teilhaben am Kuchen. Ziel der Risikogesellschaft ist: Alle sollen verschont bleiben vom Gift.
Entsprechend unterscheidet sich auch die soziale Grundsituation, in der Menschen sich hier wie dort befinden, zusammenschließen, die sie bewegt und auseinanderdividiert oder zusammen schweißt. Die treibende Kraft in der Klassengesellschaft läßt sich in dem Satz fassen: Ich habe Hunger! Die Bewegung, die mit der Risikogesellschaft in Gang gesetzt wurde, kommt dem- gegenüber in der Aussage zum Ausdruck: Ich habe Angst! An die Stelle der Gemeinsamkeit der Not tritt die Gemeinsamkeit der Angst. Der Typus der Risikogesellschaft markiert in diesem Sinn eine gesellschaftliche Epoche, in der die Solidarität aus Angst entsteht und zu einer politischen Kraft wird.
Noch ist aber völlig unklar, wie die Bindekraft dieser Angst wirkt. Wie weit sind Angst-Gemeinsamkeiten belastbar? Welche Motivationen und Handlungsenergien setzen sie frei? Wie verhält sich die neue Solidargemeinde der Ängstlichen? Sprengt die soziale Kraft der Angst tatsächlich das individuelle Nutzenkalkül? Wie kompromißfähig sind angsterzeugende Gefährdungsgemeinsamkeiten? In welchen Handlungsformen organisieren sie sich? Treibt die Angst die Menschen in Irrationalismus, Extremismus, Fanatismus? Angst war bisher keine Grundlage rationalen HandeIns. Gilt auch diese Annahme nicht mehr? Ist Angst vielleicht - anders als materielle Not - ein sehr schwankender Grund für politische Bewegungen? Kann die Gemeinsamkeit der Angst vielleicht schon durch die dünne Zugluft von Gegeninformationen auseinander geblasen werden?
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