Identität und Zukunft der SPD. Aus den sechs Thesen des Berliner Politologen und langjährigen SPD-Mitglieds Richard Löwenthai, Dezember 1981
1. Unsere Partei befindet sich zur Zeit in der Krise ihrer Identität .... Es handelt sich darum, daß einerseits die Anziehungskraft der Sozialdemokratie auf die Jungwähler zugunsten diverser "grüner" und "alternativer" Gruppen und die Nichtwähler zurückgeht, während andererseits eine erhebliche Anzahl sozialdemokratischer "Stammwähler" zur CDU abschwimmt oder zu Hause bleibt. Dieser gleichzeitige Verlust nach zwei entgegengesetzten Richtungen zeigt an, daß die Partei in einer brennenden Streitfrage unserer Zeit keine eindeutige und überzeugende Entscheidung getroffen hat - mithin eine Krise ihrer Identität durchmacht.
2. Die Streitfrage, um die es geht, ist die Frage nach dem Primat der Lebensfähigkeit unserer Industriegesellschaft und der maximalen Beschäftigung ihrer Mitglieder einerseits oder dem Primat nichtindustrieller Lebensformen und der absoluten Verhinderung ökologischer Schäden andererseits. Natürlich wollen alle Sozialdemokraten maximale Beschäftigung, und alle Sozialdemokraten sind gegen Vergiftung der Umwelt. Aber die Weltanschauung der "Alternativen" ist der Industriegesellschaft grundsätzlich feindlich und hält sie für einen geschichtlichen Irrweg der Menschheit; und sie setzt das Ziel des Umweltschutzes als so absolut, daß es mit der Fortentwicklung einer industriellen Gesellschaft unvereinbar wird ....
3. Nach der Natur der Schichten, die die eine oder andere der entgegensetzten Positionen in der Streitfrage unterstützen, hat man häufig von einem Gegensatz zwischen industriellen Arbeitern, insbesondere Facharbeitern, und Angehörigen der neuen "nachindustriellen" Schichten, insbesondere Jugendlichen, gesprochen. Das trifft die wirkliche Scheidelinie nicht. Auf der industriellen Seite findet sich die große Mehrheit aller in der Arbeitsteilung unserer Gesellschaft eingegliederten Berufstätigen - ob Arbeiter, Angestellte, Angehörige des öffentlichen Dienstes oder Selbständige, mit teilweiser Ausnahme solcher stark "ideologisch" ausgerichteten Berufe wie Lehrer und Pfarrer. Auf der anderen Seite findet sich vor allem ein Teil der Jugendlichen, die oft ohne ihr Verschulden nicht in die berufliche Arbeitsteilung eingegliedert sind, oft aber auch sich gar nicht in diese eingliedern wollen - nicht, weil sie "faul" wären, sondern weil sie die Freiheit wechselnder Beschäftigungen einer beruflichen Festlegung vorziehen, die sie als Beschränkung ihrer Selbstbestimmung empfinden. Dabei sind freilich die frei gewählten wechselnden Tätigkeiten solcher "Aussteiger" meist nicht in der Lage, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern: sie bedürfen der öffentlichen Unterstützung (etwa durch Bafög) oder der privaten (etwa durch Eltern). Sie handeln aus menschlich verständlichen altruistischen Motiven, aber sie leben überwiegend auf Kosten der berufstätigen Mehrheit.
4. Diejenigen, die der Sozialdemokratie die Aufgabe einer Integration der neuen Welle "kritischer Jugend" stellen wollen, verweisen auf eine vermeintliche Gemeinschaft der grundlegenden Ziele. Das ist eine Fehleinschätzung. Es gibt in vielen Fällen ein Gemeinschaft humaner Motive und kritischer Anschauungen zwischen Sozialdemokraten und "Aussteigern", aber keine Gemeinschaft mit ihren politischen oder antipolitischen Zielen. Die Sozialdemokratie will die Industriegesellschaft fortentwickeln und vermenschlichen - sie will sie nicht verteufeln oder abbauen, da sie weiß, daß ohne ihre Leistungen die Milliardenbevölkerung unseres Planeten nicht existieren könnte ....
5. Die Ablehnung der arbeitsteiligen Industriegesellschaft und der Rückzug auf Inseln der "Selbstverwirklichung" führen logisch häufig auch zum Rückzug aus den Institutionen unserer Demokratie. Umweltschützerische Bürgerinitiativen und kommunalpolitische Mitarbeit von "Grünen" können Formen belebender demokratischer Partizipation sein, ob ihre Vorschläge im einzelnen vernünftig sind oder nicht. Die Entgegenstellung solcher Forderungen gegen bereits rechtsgültige Mehrheitsentscheidungen der gewählten demokratischen Körperschaften aber beruht auf einem Versuch der Abkapselung lokaler Interessen von den Bedürfnissen der Gesamtgesellschaft, der zur Nichtachtung unserer demokratischen Institutionen und häufig auch zur Nichtachtung der Rechtsordnung führt, die unsere Gesellschaft zusammenhält.
6. Die Sozialdemokratie kann also die gegenwärtige Identitätskrise nur überwinden, wenn sie sich klar für die arbeitsteilige Industriegesellschaft und gegen ihre Verteufelung, für die große Mehrheit der Berufstätigen und gegen die Randgruppen der Aussteiger entscheidet. Eine solche Entscheidung ist mit realistischen Maßstäben der Umweltpolitik, wie sie seit 1969 mit sichtbarem Erfolg stetig entwickelt, aber zum Teil zuwenig bekanntgeworden sind, durchaus vereinbar. Wenn sie diese Politik sowohl in der Diskussion wie vor allem in der Praxis eindeutig vertritt, kann sie sicher schließlich auch Teile der Aussteiger, die zum Lernen aus Erfahrungen fähig sind, integrieren. Wenn die Partei um der lntegrierung dieser Gruppen willen eine klare Entscheidung vermissen läßt, kann sie nur sich selbst desintegrieren.
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