Walther Rathenau, Deutsche Gefahren und neue Ziele, 1913 rn
... Nordamerika ist im Sinne der Materialbeschaffung heute das glücklichste Land, denn es findet fast alle Rohstoffe in seinem Schoße; Deutschland ist im Verhältnis zur Ausdehnung seiner Industrie das unglücklichste. Je mehr die Industrie zur Weltwirtschaft neigt, je mehr die fernsten Küsten zum Markt der Rohstoffe beitragen müssen, desto gefährlicher wird die Geringfügigkeit unseres Anteil s am Landbesitz der Welt.
In frühern Zeiten glaubte man, Kolonien seien nützlich als Tributstaaten oder als Abladestätten der Übervölkerung oder als Absatzgebiete. Heute erkennen wir, daß sie meist mehr kosten als bringen, daß Auswanderung unerwünscht ist, und daß kolonialer Absatz umstritten ist, wie jeder andere Absatz; deshalb sind wir leicht geneigt, . . . den Wert überseeischen Besitzes zu unterschätzen. Bald werden wir erkennen, daß jedes Stück der Erde als Substanz wertvoll ist; denn auch das geringste besitzt oder erzeugt irgendein Rohmaterial; und ist es nicht das unmittelbar verwendbare, so dient es zum Austausch.
Die letzten hundert Jahre bedeuteten die Aufteilung der Welt. Wehe uns, daß wir so gut wie nichts genommen und bekommen haben! Nicht politischer Ehrgeiz und nicht theoretischer Imperialismus rufen diese Klage aus, sondern beginnende wirtschaftliche Erkenntnis. Die Zeit naht eilend heran, in der die natürlichen Stoffe nicht mehr wie heute willige Marktprodukte, sondern heiß umstrittene Vorzugsgüter bedeuten; Erzlager werden eines Tages mehr gelten als Panzerkreuzer, die aus ihren Gängen geschmiedet werden.'
Schon heute wäre die Hoffnung irrig, als könnten fremde Kolonien uns so gut bedienen wie eigene; als könnten Deutsche in Marokko so gut Bergbau treiben wie Franzosen. Jeder Kenner auswärtiger Industrien weiß, was fremde Landesaufsicht, fremde Gesetzgebung, fremde Transportbahnen, Häfen, Finanzen und Konkurrenzen bewirken und verhindern können. Wir wer-den Käufer bleiben statt Produzenten eigenen Rechts zu sein, und es wird kaum einer Periode künftiger Exportzölle bedürfen, um uns diese Schwäche fühlbar zu machen, sobald die steigende Konsumkraft der Welt beginnt, die ersten Rohstoffe einzuengen.
Seit Bismarcks Scheiden betreibt Deutschland nicht mehr aktive auswärtige Politik, weil Preußen nicht von staatsgeschäftlichen Talenten, sondern von verdienstvollen Beamten geführt wird, und weil das Volk, im Gewinnen befangen, seine Staatssorgen nicht ernst nimmt. Wir bemühen uns, der Welt klarzumachen, daß wir gesättigt sind, daß wir keine Wünsche haben, und je mehr wir reden, desto mehr mißtraut man uns und schiebt uns verwegene Pläne unter, weil man nicht begreifen kann, daß wir unsere eigene Notdurft und unser eigenes Begehren nicht kennen. Es wird Zeit, daß wir es kennenlernen und daß wir unumwunden bekennen und aussprechen: ja, es ist wahr, wir haben Nöte und Bedürfnisse. Wir können nicht in einem Menschenalter hundert Millionen Deutsche mit den Produkten einer halben Million Quadratkilometer einheimischen Bodens und einer afrikanischen Parzelle ernähren und beschäftigen, und wir wollen nicht der Gnade des Weltmarktes anheimfallen. Wir brauchen Land dieser Erde. Wir wollen keinem Kulturstaat das seine nehmen, aber von künftigen Aufteilungen muß uns so lange das nötige zufallen, bis wir annähernd so wie unsere Nachbarn gesättigt sind, die weit weniger Hände und unendlich mehr natürliche Güter haben.
Auf diese Sprache kann nichts erwidert werden, denn das Argument der Rohstoffe ist unwiderleglich wahr. Gelingt es uns, glaubhaft zu machen, daß wir unsere Nachbarn nicht expropriieren wollen – und von unserer Friedens-liebe dürfte man nachgerade bis zu den Eskimos überzeugt sein– so erwächst den Kulturnationen die ernste, wohlverstandene, eigene Sorge, uns aus einer Verlegenheit zu helfen, die ungestillt zu einer dauernden europäischen Gefahr werden müßte. Es ist einfach unmöglich, daß man uns fernerhin von allen Geschäften mit jenem Sarkasmus ausschließt, der nicht unberechtigt war, solange wir uns in sogenanntem Desinteressement nicht genugtun konnten.
Zu den künftigen nützlichen Unterhaltungen in dieser Richtung, die vor allem mit England zu führen sind, gehört ein Gegenstand, der nur scheinbar abseits von diesen Erwägungen liegt, und verschiedenen europäischen Nationen gleichmäßig nahegeht: er betrifft das beispiellose Kuriosum der internationalen Politik, die Monroedoktrin. Eine mißverstandene Präsidentenbotschaft sperrt nach hundert Jahren ohne Gegenleistung und ohne Gegenpflicht einen Südkontinent zugunsten nordamerikanischer Einwirkung, während es den Vereinigten Staaten gestattet bleibt, sich in aller Welt festzusetzen. An die Stelle dieser engen Kasuistik muß in gegebener Zeit die wirtschaftlich notwendige und gerechtfertigte Lehre treten: daß kein Territorium der Erde von einer Macht dauernd und selbständig sequestriert werden darf, die nicht imstande ist, seine Boden- und Oberflächenschätze im Dienst der Allgemeinheit nutzbar zu machen. Die Erde ist nicht groß und nicht reich genug, um den Luxus selbständiger Halbzivilisationen auf Kosten der Weltproduktion zu gestatten.
Aber wie dem auch sei; selbst wenn eine künftige Zeit, eine glücklichere Politik und ein klareres Erkennen uns einen gerechteren Anteil an der Erbschaft der Welt gewährt als unser jetziger Pflichtanspruch: die Zeit der großen Erwerbungen ist für Deutschland verpaßt. Da wir eine gewaltsame Neuverteilung der Lose nicht ersehnen dürfen, so müssen wir mit dem Gedanken rechnen, daß wir auf absehbare Zeit und in weitem Umfang eine zwangsweise kaufende und notgedrungen handelnde Nation bleiben.
So besteht die Verdopplung der Gefahr: neben der Erschwerung des Kaufs die Erschwerung der Zahlung, die Entwertung des Zahlungsmittels, des Ausfuhrguts.
Mit Ausnahme von England, das in glänzender Isolation die Irrtümer der Jahrhunderte zu überdauern pflegt, frönen alle Wirtschaftsstaaten dem Hochzoll. Das Prinzip der Warenhemmung, das in Form der Binnenzölle vernichtet werden mußte, um vor hundert Jahren den Landeswirtschaften Raum zu schaffen, beherrscht heute die Weltwirtschaft... .
Eine Periode des Schutzzolls war für die jüngern Wirtschaftsländer nötig; in einzelnen, vor allem in Amerika nach der Gesetzgebung Mc Kinleys, hat sie Wunder gewirkt. Mit Recht hat man 'diese Wirkung dem Schutz der Treibhausscheiben verglichen: die zarte Pflanze erstarkt, der Baum sprengt die Enge. Unsere Industrie entwächst von Tag zu Tag dem Bedürfnis des Schutzes: aber in dem Maße, wie sie nach außen wirken will, wird ihr fühlbar, daß nicht sie allein aus dem Mittel der Hegung Nutzen zog.
Von uns und Amerika haben die Völker gelernt; Zollmauern sind längs jeder Landesgrenze getürmt und erhöhen sich alljährlich, und im Innern der Staaten werden nationalistische Kräfte in den Dienst des Geschäftes gezogen, um den letzten Zufluß von Auslandsgütern abzudämmen.
Dieser friedliche Krieg der Nationen bietet der Zukunft Deutschlands schwerere Gefahren als irgendeine Waffendrohung. Er entwertet unser Zahlungsmittel, er zwingt uns auf die Dauer, teuer zu kaufen und billig zu verkaufen, und somit unentgeltliche Arbeit für das Ausland zu leisten. Es ist kein Zweifel, daß unsere Gegner Kenntnis dieser Lage haben, denn sie unterstützen jede nationalistische Importhetze und verengern so das Netz der wirtschaftlichen Einkreisung, nachdem die politische Einkreisung zur Unzerreißbarkeit gediehen ist. Um so weniger würden sie erstaunt sein, wenn wir es wagten, die Lage anzuerkennen und durch gerechte Ansprüche ihre Folgerungen zu ziehen.Es ist weder durchführbar noch wünschenswert, daß wir zum sogenannten Freihandel zurückkehren; vor allem können und dürfen wir nicht ohne Gegenseitigkeit der Leistung uns zoll-technisch entblößen. Aber die Blütezeit der Hochzölle ist in der Welt vorüber; das werden über lang oder kurz alle wirtschaftlich tätigen Nationen empfinden. Ein Abbau der Mauern wird geschehen, sonst fallen alle Vorteile dem Lande zu, das nichts zu kaufen und nichts zu zahlen braucht: Amerika.
Ein schweres Hemmnis wird die Tendenz der freien Bewegung in Deutschland finden, denn hier ist das Gebäude des Hochzolls in der Agrarpolitik verankert, die gleichzeitig eine der Grundlagen des preußischen Feudalismus bildet.
Man geht bei uns von der Ansicht aus, daß der hegemonische Staat die Kräfte seiner Führung und Verteidigung nur aus den Schichten des Grundbesitzes ziehen könne, und stellt sich daher die Aufgabe, den landwirtschaftlichen Großbetrieb, der in seiner heutigen Konstituierung und Belastung mit der Weltkonkurrenz nicht Schritt halten kann, auf gesetzgeberischem Wege seinen Besitzern zu erhalten. Dies geschieht durch eine weitgreifende Zoll- und Einfuhrregelung, die sich auf alle Agrarprodukte erstreckt, und manche um nicht viel weniger als die Hälfte des Auslandpreises belastet... .
So steht der Gefahr der wirtschaftlichen Erstickung ein Hochzollsystem zur Seite, das in den Interessen des Großgrundbesitzes, somit in der mächtigsten Quader des preußischen Regierungsbaus verankert ist. An einer Gesetzgebung, die ihren Urhebern Kopf für Kopf Renten von Tausenden, Zehntausenden und Hunderttausenden bedeutet, ist nicht zu rühren. Mithin ist, selbst für den Fall, daß der Abbau der industrialen Hochzölle sich allmählich vollzieht, eine wirtschaftliche Freundschaft mit allen Ländern überwiegenden Agrarexportes in absehbaren Zeiten ausgeschlossen.
Es bleibt eine letzte Möglichkeit: die Erstrebung eines mitteleuropäischen Zollvereins, dem sich wohl oder übel, über lang oder kurz die westlichen Staaten anschließen würden. Früher als wir, beginnen einzelne unserer Nachbarstaaten, die nicht über unsern gewaltigen Binnenkonsum verfügen, die Unbilden der wirtschaftlichen Isolation zu spüren. Ihre Industrien fristen ihr Da-sein auf der engen Grundlage nationaler Syndikate, die sich durch Preisverteuerung im Inland für den Mangel an Ausdehnungskraft und selbständiger technischer Entwicklung entschädigen. Die industrielle Zukunft gehört der schöpferischen Technik, und schöpferisch kann sie nur da sich betätigen, wo sie unter frischem Zuströmen menschlicher und wirtschaftlicher Kräfte sich dauernd im Wachstum erneuert. So wie die einstmals vorbildliche Maschinenindustrie der Schweiz die Führung an die Länder größern Konsums abtreten mußte, so folgen heute zahl-reiche Industrien der deutschen Vormacht; aber wir werden dieser Erbschaften nicht froh; auch uns wäre es besser, wenn wir manche Naturkraft, manche begünstigte Produktionsstätte und manchen unerschlossenen Verbrauchskreis unsrer Nachbarschaft in das Netz einer allgemeinen Wirtschaft einbeziehen dürften.
Die Aufgabe, den Ländern unserer europäischen Zone die wirtschaftliche Freizügigkeit zu schaffen, ist schwer; unlösbar ist sie nicht. Handelsgesetzgebungen sind auszugleichen, Syndikate zu entschädigen, für fiskalische Zolleinnahmen ist Aufteilung und für ihre Ausfälle Ersatz zu schaffen; aber das Ziel würde eine wirtschaftliche Einheit schaffen, die der amerikanischen ebenbürtig, vielleicht überlegen wäre, und innerhalb des Bandes würde es zurückgebliebene, stockende und unproduktive Landesteile nicht mehr geben. Gleichzeitig aber wäre dem nationalistischen Haß der Nationen der schärfste Stachel genommen. . . . Was . . . die Nationen hindert, einander zu vertrauen, sich aufeinander zu stützen, ihre Besitztümer und Kräfte wechselweise mitzuteilen und zu genießen, sind nur mittelbar Fragen der Macht, des Imperialismus und der Expansion: im Kerne sind es Fragen der Wirtschaft. Verschmilzt die Wirtschaft Europas zur Gemeinschaft, und das wird früher geschehen als wir denken, so verschmilzt auch die Politik. Das ist nicht der Weltfriede, nicht die Abrüstung und nicht die Erschlaffung, aber es ist Milderung der Konflikte, Kräfteersparnis und solidarische Zivilisation.
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