Maria Friese: Wie geht es der Familie, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5.10.1991
Krisenhafte Symptome zeichnen die Familie nun schon seit Jahrzehnten. Der Übergang von der Großfamilie zur drei- oder vierköpfigen Kernfamilie ist mit gelegentlichen Verlustgefühlen verbunden. Der Wandel von einer Selbstversorger-Gemeinschaft zur Vereinzelung in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft macht vielfältige Kompensationen nötig. Früher selbstverständliche Kontakte verkümmern oder sind nur mit besonderen Bemühungen aufrechtzuerhalten. Arbeit und Familie, einst untrennbar eng miteinander verflochten, sind zu zwei verschiedenen Welten geworden, zwar abhängig voneinander, aber doch auch in fast feindlicher Rivalität. Schließlich die "Neue Frau", die beides will- Beruf und Familie - und deshalb mindestens drei Rollen gleichzeitig übernehmen muß, weil der "Neue Mann" sich weigert oder einfach noch nicht in der Lage ist, das familiäre Gleichgewicht auszutarieren und der Frau einen besseren Platz in der Arbeitswelt einzuräumen. Immer mehr Familien brechen auseinander, weil die Ansprüche aneinander unerträglich erscheinen. Jede dritte Ehe wird geschieden. In Amerika bereits jede zweite. Und nicht nur das, die Beziehungen zwischen den Generationen reißen ab. Daß Großeltern mit Kindern und Enkeln zusammenleben, ist die Ausnahme, entferntere Verwandtschaft spielt kaum noch eine Rolle. Kinder sind mehr denn je allein auf ihre Eltern angewiesen. Ist die Familie also ein von Krisen, Überlastung und Entfremdung bedrohtes geschrumpftes Ensemble, das seinen Part nicht mehr spielen kann und deshalb laut um Hilfe nach dem Staat schreit? ...
Das alte Familienmodell war eine Wirtschaftsgemeinschaft, in der Gefühle wie Liebe sich wohl entwickelten, aber nicht die entscheidende Voraussetzung für den Zusammenhalt waren. Kinder waren als Erben erwünscht und später als Versorger ihrer alten Eltern nötig, auf ihre Bedürfnisse nahm man wenig Rücksicht. Heute stehen Eltern voll im Dienst ihrer Kinder, an deren Wohlergehen und Erfolgen in der Schule oder im Sportverein sie ihre eigene Qualität messen. Es sind beachtliche Anstrengungen nötig, um den Ansprüchen, die sie selbst oder die Nachbarschaft stellen, zu genügen. Nichts mehr, so scheint es, ist selbstverständlich. Denn nur selten sind unsere Lebensverhältnisse Kindern angemessen. Stadtplaner haben zwar "autogerechte" Entwürfe entwickelt, oft aber die Bedürfnisse von Familien vernachlässigt. Für Kinder ist in manchen Stadtteilen kein Platz mehr. ...
Ehen werden heute später geschlossen, weil die Ausbildung länger dauert, weil auch Frauen im Beruf Fuß fassen möchten, bevor sie sich fest binden. Der Wunsch nach Kindern wird hinausgezögert, nicht selten auch bewußt verdrängt oder ganz aufgegeben. Oft leben Paare lange zusammen, bevor sie sich entschließen, zu heiraten, manchmal verzichten sie überhaupt darauf; auch Kinder sind nicht immer ein Grund, zum Standesamt zu gehen. Ob verheiratet oder nicht, in ihrer Lebensgemeinschaft ähneln sich die Paare. Eine Gefahr für die Familie, wie vielfach vermutet wird, sind die "wilden Ehen" nicht. Sie nehmen ja auch ernst, was die Familie zusammenhält: Treue, Rücksicht, Gemeinsamkeit. Nur möchten sie sich ihre Freiwilligkeit nicht durch einen amtlichen Akt, wie sie es sehen, beeinträchtigen lassen. Trennungen sind bei Ehen ohne Trauschein genauso schmerzlich wie bei jenen, die sich im Standesamt oder in der Kirche "für immer" verbunden haben ....
Heute wollen die meisten jungen Frauen - nicht anders als ihre Männer - beides, Beruf und Familie. Das heißt, beide, Mann und Frau, brauchen, um ihre Wünsche erfüllen zu können, Entlastung. Beide sind häufig gleich gut ausgebildet und gerade dabei, Karriere zu machen, zumindest aber finden beide einen großen Teil Befriedigung im Beruf. Doch nach wie vor sind die Chancen ungleich verteilt. Sobald sie Kinder bekommt, gerät die Frau im Beruf ins Hintertreffen. Sie findet einfach nicht die treue Seele, die ihr die Arbeit Zu Haus abnimmt. Großmütter sind nicht zur Stelle, und Kindergärten und Horte, sofern sie da überhaupt einen Platz bekommt, entsprechen nicht immer ihren Vorstellungen. Die Neuen Väter, die freudig ihren Beruf an den Nagel hängen und als Hausmann Familiendienst leisten, sind bisher vielbeachtete und, je nachdem, hochgelobte oder bespöttete Ausnahmeerscheinungen geblieben ....
Familienfrauen haben inzwischen gelernt, daß Emanzipation nicht unbedingt mit bezahlter Arbeit zusammenhängt - das selbstverdiente Geld kann sie allerdings erleichtern. Nur sollte "Familienfrau" ein freiwillig akzeptierter Status sein, ja auch als Privileg empfunden werden und nicht aufgezwungen sein mangels geeigneter Möglichkeiten oder verpaßter Berufschancen. Auch Selbstverwirklichung, das zweite Stichwort, das zeitweise ein Reizwort war, ist nicht nur am Arbeitsplatz außer Haus zu finden. Frei verfügbare Zeit ist heute vielleicht das Kostbarste, was wir haben. Einen Sinn in dieser freien Zeit finden, an der es Berufstätigen oft so mangelt, Aufgaben übernehmen und Initiativen ergreifen - das gelingt heute immer mehr Frauen. Allein oder noch öfter zu mehreren setzen sie ihre Interessen durch, schließen sich Zu Selbsthilfegruppen zusammen, gründen zweckbestimmte Initiativen, gewinnen auch Männer für ihre Vorhaben.
Was wäre unser Gemeinwesen, wenn es diese Reserven nicht gäbe, und was wären die Familien ohne solche Kraftquellen? Schulen und Kindergärten rechnen fest mit unterstützender Elternarbeit. Oft entstehen gerade dort, wo es um die Interessen der Kinder geht, aktive Kleingruppen. die sich darum kümmern, daß Spielplätze gebaut oder Verkehrsumleitungen beschlossen werden. Darüber hinaus führt der Weg von solcher Art Einsatz und Verantwortungsgefühl nicht selten unmittelbar in die Kommunalpolitik. Immer mehr Frauen sind dort vertreten. Familienarbeit. und erst recht, wenn sie über den engen Rahmen der Familie erweitert wird, macht kompetent für viele Entscheidungen im Gemeinwesen.
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