3. Der Strategiewechsel in der Wirtschafts- und Sozialpolitik
Die sozialliberale Koalition übernahm politische Verantwortung in einer konjunkturellen Boomphase, was günstige Voraussetzungen für ein weitgestecktes innenpolitisches Reformprogramm schuf. Die in der Großen Koalition praktizierte "Globalsteuerung" schien darüber hinaus die Garantie dafür zu geben, daß man zuküftig konjunkturelle Abschwünge auch ohne größere wirtschaftliche Einbrüche würde meistern können. Die Entwicklung verlief aber ganz anders, wozu insbesondere zwei Ölpreisexplosionen, eine Weltwirtschaftskrise und schwer lösbare wirtschaftliche Strukturprobleme beitrugen. Einen kritischen Verlauf nahm die Wirtschafts- und Finanzpolitik der neuen Regierung indessen schon vor der ersten großen Ölpreiserhöhung. Ein ehrgeiziges Reformprogramm, eine expansive Lohnpolitik der Gewerkschaften und eine Dollarschwemme ' aufgrund der Finanzierung der amerikanischen Vietnam-Kriegskosten durch Notenbankkredite bewirkten einen sich beschleunigenden Preisanstieg. Da die haushaltspolitischen Sparpläne der Bundesminister der Finanzen, Möller und Schiller, im Kabinett keine Unterstützung fanden, traten beide 1971 bzw. 1972 von ihrem Amt zurück.
Die Krise spitzte sich weiter zu, als zwischen Herbst 1973 und Mitte 1974 die Ölpreise je Barrel Rohöl von 3 Dollar auf 11 Dollar anstiegen. Dadurch verstärkte sich noch einmal der Preisauftrieb in der Bundesrepublik (Zunahme der Verbraucherpreise in 1973 und 1974 um je 7%). Dieser Entwicklung suchte die Bundesbank mit einer harten restriktiven Geldpolitik zu begegnen. Das führte zwar schließlich zu der beabsichtigten Verringerung der Inflationsrate, zugleich aber zu einem schweren Konjunktureinbruch mit Massenarbeitslosigkeit, nachdem nach einer Verzögerungsphase auch die Auslandsnachfrage zurückging (Weltwirtschaftskrise).
Die Bundesregierung unter dem neuen Kanzler Helmut Schmidt reagierte auf die Produktions- und Beschäftigungskrise des Jahres 1975 mit einer expansiven Haushaltspolitik, wobei die gesamtstaatliche Kreditaufnahme 1975 mit 536 Mrd DM oder 5,2 % des Bruttosozialprodukts ihren bis dahin höchsten Wert erreichte. Diese Politik des "deficit spending" blieb nicht ohne Wirkung, die Konjunktur erholte sich und ab 1978 nahm auch die Zahl der Erwerbstätigen wieder deutlich zu, ohne daß allerdings die Zahl der Arbeitslosen wegen der demographisch bedingten Zunahme der Erwerbsbevölkerung auf wesentlich unter eine Million absank. Gleichzeitig wuchs die Staatsverschuldung weiter an, wobei sich ihr Anteil am Bruttosozialprodukt zwischen 1974 und 1979 von 195 % auf 29 6 % erhöhte.
Die keynesianische Politik der Regierung geriet daher in große Schwierigkeiten, als die zweite große Ölverteuerung von 1979/80, durch die der Ölpreis von 13 Dollar auf 36 Dollar je Barrel anstieg, einen neuen Inflationsschub auslöste, zumal die Tarifparteien den mit der Ölpreiserhöhung verbundenen Kaufkraftentzug jeweils über die Löhne bzw. über die Preise von sich abzuwälzen versuchten. Wieder sah sich die Bundesbank zu einer einschneidenden Stabilitätspolitik genötigt. Da wachsende Strukturprobleme (vgl. 3.1) zudem die internationale Wettbewerbsposition der deutschen Wirtschaft schwächten und die Regierung angesichts der hohen Staatsverschuldung und der beträchtlichen Inflationsraten sich ihrerseits zu einer Politik der Haushaltssanierung entschloß, mündete die Stabilisierungspolitik der Bundesbank erneut in eine schwere Stabilisierungskrise. Die Zahl der Arbeitslosen erhöhte sich auf fast zwei Millionen. Zwischen den Koalitionspartnern SPD und FDP aber entstand ein heftiger Streit um die richtige Wirtschafts- und Finanzpolitik, der in der Öffentlichkeit und unter den Wirtschaftswissenschaftlern unter dem Stichwort Angebotspolitik contra Nachfragepolitik" ausgetragen wurde.
Indem die Parteiführung der FDP den sich daraus ergebenden Dissens mit der SPD zuspitzte, kam es im Herbst 1982 zum Bruch der sozialliberalen Koalition und im Rahmen eines konstruktiven Mißtrauensvotums zur Wahl Helmut Kohls (CDU) zum Bundeskanzler einer christlich-liberalen Koalition. Sie sah sich vor allem vier Hauptproblemen gegenüber: einer zunehmenden Massenarbeitslosigkeit, einer hohen Inflationsrate, einer anwachsenden Staatsverschuldung und einem heftigen Streit um die Nachrüstung im Zusammenhang des NATO-Doppelbeschlusses.
In den Mittelpunkt ihrer innenpolitischen "Wendepolitik" stellte die Regierung die Haushaltssanierung und die Anregung eines neuen konjunkturellen Aufschwungs auf der Grundlage einer sogenannten „Angebotspolitik" Tatsächlich gelang es der Koalition in wenigen Jahren die Inflation zu stoppen, die Wachstumsrate der Staatsverschuldung deutlich zu verringern und einen dauerhaften Konjunkturaufschwung einzuleiten. Allerdings kamen ihr dabei günstige andere Einflußfaktoren zur Hilfe: insbesondere die Geldpolitik der Bundesbank, die Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften und der Verfall der Rohstoffpreise. Besonders umstritten war die Vorgehensweise der Regierung bei der für die weitere wirtschaftliche Entwicklung wichtigen Konsolidierung des Haushalts und der Sozialkassen. Nach Meinung der Gewerkschaften programmierten die dazu verabschiedeten Gesetze einen Sozialabbau vornehmlich zu Lasten der sozial schwächeren Volksschichten, wohingegen die Regierung behauptete, angemessenere, nämlich familienpolitische Schwerpunkte in der Sozialpolitik zu setzen und im übrigen lediglich überzogene soziale Ansprüche zu beschneiden, durch die der Wille der Bürger zur ökonomischen Eigenverantwortlichkeit in Mitleidenschaft gezogen werde.
Langfristig blieb die Angebotspolitik der Regierung und die damit verbundene erhebliche Verbesserung der Gewinnsituation der Unternehmen nicht ohne Wirkung. Nicht nur wurde mit ihrer Hilfe 1983 der längste Konjunkturaufschwung der Bundesrepublik mit der durchschnittlich geringsten Preissteigerungsrate eingeleitet, sondern als gegen Ende des Jahrzehnts zusätzliche Nachfragefaktoren wirksam wurden (europäischer Binnenmarkt, Übersiedlerzustrom, deutsche Vereinigung) beschleunigte sich das Wirtschaftswachstum, so daß die Arbeitslosenquote zu sinken begann und von 1983 bis 1990 insgesamt zwei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden.
Vor völlig neue Probleme wurden jedoch seit 1990 Regierung und Wirtschaft aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Vereinigung der beiden ehemaligen deutschen Teilstaaten gestellt.
Ökonomische Auswirkungen der Ölkrise von 1973/74 im Urteil des Sachverständigenrates
1. Die Ölkrise hat dem arbeitsteiligen System der Weltwirtschaft einen Schock versetzt. Sie schuf Risiken und weckte Sicherheitsbedürfnisse, die viele Jahre nicht akut gewesen sind. Sie sollten auch nicht bestehen müssen. Das Verhalten der Länder des OPEC-Kartells war ein grober Verstoß gegen die Spielregeln der arbeitsteiligen Weltwirtschaft, in der im Prinzip jeder wegen der großen Vorteile, die daraus für ihn und für alle erwachsen, das Risiko wechselseitiger Abhängigkeit in Kauf nehmen muß. Manche sind jedoch weniger abhängig als andere oder haben Macht, weil sie Schaltstellen innehaben. Halten diese die Spielregeln nicht ein, müssen die anderen damit rechnen, daß ihnen großer Schaden entsteht, es sei denn, sie verfügten über Gegenmacht. Das ist geschehen. Über die Motive der OPEC-Länder ist hier nicht zu rechten. Sie werden die gleichen sein wie überall in der Welt, wo es Kartelle gibt. Die Preispolitik des Kartells und seine Drohung mit Mengenbeschränkungen zwingen jetzt die übrige Welt zu aufwendigen Vorkehrungen, damit die Energieversorgung wieder sicher und billiger wird. Wegen im Prinzip vermeidbarer und damit ökonomisch funktionsloser Risiken müssen die ölverbrauchenden Länder riesige Beträge aufwenden, um eine von den Produktionskosten her billigere, aber jetzt monopolistisch verteuerte und vorsätzlich unsicher gemachte Energieversorgung durch eine sichere eigene zu ersetzen. Alte Energieträger, wie Kohle, werden zu stark genutzt, neue, wie Kernenergie, forciert entwickelt und Ölreserven der Welt mobilisiert die man wegen der ungünstigen Lagerung eigentlich erst zu einem sehr fernen Zeitpunkt, möglicherweise sogar niemals hätte nutzen müssen. Solche Vorkehrungen gegenüber dem Marktverhalten des 0PEC-Kartells und die dafür nötigen Aufwendungen dürften zwar unumgänglich sein, doch ihr ökonomischer Sinn für die Welt ist nicht größer als der von Waffen.
2. Kurzfristig stellt die Ölkrise eine schwere Belastung vor allem deshalb dar, weil die drastische und plötzliche Umlenkung von Einkommensströmen die Anpassungsfähigkeit auch der marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaften Überforderte, so daß sie mit beschleunigter Inflation reagierten. Mittelfristig gesehen, ist eine Änderung der realen Austauschrelation im Außenhandel, also des Verhältnisses der Einfuhrpreise zu den Ausfuhrpreisen, wie sie 1974 erzwungen worden ist, für die reichen Industriestaaten kein Problem dem sie nicht gewachsen sein müßten. Denn die Verteuerung von Erdöl und vielen anderen Rohstoffen machte, so bedeutend man sie finden muß, doch nur wenig mehr als den halben Zuwachs an Realeinkommen aus, den diese im Rahmen ihres wirtschaftlichen Wachstums erzielen, und zwar Jahr für Jahr. So abrupt erzwungen, kam es jedoch allenthalben zu Verwerfungen der Preis- und Einkommensstruktur, die in den meisten Ländern zu einer abermals erhöhten lnflationsrate, in anderen auch zu Arbeitslosigkeit führte. Vor allem im Verteilungskampf der Gruppen gab es einen inflationsträchtigen Streit über die Zuweisung der im ganzen jedenfalls nicht abwälzbaren Lasten,
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