Die Annexion durch Preußen fand jedoch nicht in allen Kreisen volle Zustimmung. Der Kopf der politischen und religiösen Renitenz war Wilhelm Vilmar (1804-1884), der als Metropolitan 1868 suspendiert und 1873 amtsenthoben wurde. Den vorliegenden Brief schrieb er an den ehemaligen kurhessischen Minister Friedrich Scheffer.
In Scheffers Nachlaß finden sich außerdem die abgedruckten "Gedanken über die Machtpolitik Preußens".
Meinungen der Renitenz
Melsungen, am 7. Februar 1871
Hochverehrtester Herr Minister!
Wird es denn noch ein Plätzchen in Hessen geben, wo wir sagen können - dürfen -: Wir sind Hessen und bleiben Hessen und behaupten das Erbe, das wir von den Vätern überkommen haben? Fast scheint es nicht so - es wird immer dunkler - alle Sterne gehen unter. Das Volk schläft und schnarcht oder ist bereits gestorben, nur die Eulen heulen, und die wilden Thiere gehen auf Raub aus, - und die Priester beten falsche Götter an, die neuen Götter, welche ihnen der große Gott Erfolg auf die Altäre setzt.
Und dennoch mitten in dieser dunkelsten Mitternachtsstunde des hessischen Volkes, unter diesen unleugbaren, alles zerschmetternden Gerichten Gottes, mitten in diesem ungeheuren wie ein dicker Nebel alle Wahrheiten verhüllenden und nur verschwindende Gaukelbilder schaffenden Schwindel, der sich um den großen Göttersitz Erfolg sammelt, wagt ein bereits aus dem Heiligtum Gottes Vertriebener, dem es nicht mehr gestattet ist, an dem Altare des Gottes seiner Väter die von Gott ihm anvertraute Gemeinde zu versammeln, [...] dennoch wagt ein solcher im Glauben an den lebendigen Gott, [...] nicht nur auszuhalten und zu beharren bis ans Ende, sondern auch die Fahne des Glaubens neu aufzupflanzen, in der zuversichtlichen Gewißheit, die hessische Kirche und mit ihr alles, was zum wahren Hessenthum gehört, geht nicht unter, sondern steigt nur aus dieser Nacht mit neuer Verklärung hervor. [...]
So war es mir denn eine große Freude, daß Sie sich durch die mir übersandte Gabe factisch zu unserm Missionshause bekannt haben. Ich lebe des festen Glaubens, daß Gott mit uns ist und daß sich an diesem Unternehmen die Lichtstrahlen sammeln, welche seit länger als 40 Jahren auch über das Hessenland ausgegossen wurden und das Volk aus seinem langen Todesschlaf aufweckten, so daß nichts umsonst war und nichts verloren geht, was in dieser Zeit geschehen ist. [...]
[Der ehemalige kurhessische Minister Friedrich Scheffer machte sich um 1875 Gedanken über die Machtpolitik Preußens:]
[...] Die Ideen und Grundsätze Friedrichs (des Großen) und Voltaires waren nichts als freimauerische, Absolutismus und Liberalismus verquickende, und von ihnen ist das Preußenthum in fortschreitender Potenz so durchdrungen und von der Masse der Gleichgesinnten in Deutschland so eingesogen worden, daß nicht eine Verdeutschung Preußens, sondern eine Verpreußung Deutschlands, ein absolutistisch-liberalisierendes Regiment sich vollzieht. Wo die Gottesgebote keine Geltung mehr haben, wo göttliches und menschliches Recht mit Gewalt unterdrückt oder wegkortiert wird, da regiert weder im Innern noch nach Außen das fundamentum regnorum, die Gerechtigkeit, welche allein ein Volk erhöhet. [...] Jedem sein Recht im Weltlichen wie im Kirchlichen! Wo ist davon im neudeutschen Reich die Rede? Militarismus, Bureaukratismus, Industrialismus und Unionismus! [...]Die Gleichheit, wenn nicht relativ gefaßt, ist der Tod des Rechts und der Freiheit und ebenso die rücksichtslose Einheit. [...] Wir stehen hier vor den Thatsachen des Freihandels, des Bruchs von Staatsverträgen, der Annexion, des allgemeinen Stimmrechts, des Militarismus und einer Menge von liberalen thatsächlichen Schöpfungen auf politischem, kirchlichem, socialem und wirthschaftlichem Gebiete und klagen über den moralischen und materiellen Niedergang und Verfall, der nicht mehr zu verdecken ist. [...]
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.