Luther als Endzeitprophet. Bewertung des Kirchenhistorikers Heiko A. Oberman, 2003
"Luther lebte nicht - wie Erasmus und Calvin - auf der Schwelle zur Moderne, sondern in der Endzeit (finis mundi): Er durchlebte die letzte Phase der Geschichte dieser Welt. Da ein scharfes Bewusstsein für die tickende Uhr heute nur noch in Randgruppen zu finden ist und mit den Argumenten historischer Gelehrsamkeit als jüdische Apokalyptik abgelehnt wird, haben Lutherforscher, um die Bedeutung ihres Helden zu sichern, diesen zentralen Brennpunkt seines Denkens und Handelns beiseite gedrängt. Da ihnen damit ein bedeutendes Element seiner authentischen Botschaft entging, ist es ihnen nicht gelungen, das Geheimnis der Wirkung Luthers zu lösen.
Das moderne Christentum, das mit großem Eifer die Ökumene verbreiten will, hat Himmel und Hölle dekonstruiert und sich damit noch weiter von Luther entfernt - von einem Menschen, der zwischen einem realen Gott und einem realen Teufel lebte. Jene, die Luthers Botschaft als Lektion für die Gegenwart verstehen, müssen einen gewaltigen Schritt zurück in die Vergangenheit machen, um seine wachsende Überzeugung, dass das Ende der Geschichte mit großer Schnelligkeit nahte, zu entdecken und in sich aufzunehmen. Empfinden die Gelehrten die Vorstellung des realen Teufels als Peinlichkeit, so begegnen sie Luthers Glauben, dass die Welt sich in ihrer Endphase befand (eine Überzeugung, die Luther mit Amos, Sacharja, Jesus, Petrus, Paulus und all jenen teilte, die die Zukunft eher in Monaten denn in Jahrhunderten maßen), mit vollkommenem Schweigen. In bester Absicht und zweifellos unbewusst haben selbst die hervorragendsten Lutherforscher seine apokaqlyptische Stimme zum Schweigen gebracht."
Heiko A. Oberman, Zwei Reformationen. Luther und Calvin - Alte und Neue Welt, Berlin 2003, S. 115-16
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