Rücktrittsbrief des Bundesministers für Wirtschaft und Finanzen Karl Schiller vom 2. Juli 1972
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler!
Ich habe in diesen Tagen über die Position meiner Wirtschafts- und Finanzpolitik in diesem Kabinett gründlich nachgedacht. ...
Die letzten Monate haben gezeigt, daß ich mich mit der Mehrheit des Kabinetts im finanz- und haushaltspolitischen Konflikt befinde. Die denkwürdige Sitzung vom 16. Mai 1972, als der für die Finanzen zuständige Minister sich disziplinlosen Attacken ausgesetzt sah, nur weil er auf die Mehrbelastungen der mittelfristigen Finanzplanung hinwies, braucht nur erwähnt zu werden. Meine Notmaßnahme, nämlich das Kabinett anhand meiner Kabinettsvorlage vom 18. Mai 1972 zu unbequemen Entscheidungen zu veranlassen, hat für 1972 sicherlich zu einem Teilerfolg geführt. Aber ungewünscht ist diese Anstrengung immer noch. Im Gegenteil: Sie wird bekanntlich von einigen Kabinettsmitgliedern in ihrem Sinn und ihrer Bedeutung draußen heruntergemacht. Und immer noch sträubt sich das Kabinett, im Sommer 1972, sich mit den Fakten, die die Finanzplanung ab 1973 bestimmen, zu befassen. Von der Regierung ist bekanntgegeben worden, daß sie Ende August hierzu Beschlüsse fassen würde. Die letzte Debatte im Kabinett anläßlich der Vorlage über Bundeswehrhochschulen zeigte aber erneut, daß auch dieser Termin noch unklar ist. Da wurde der September genannt, wo jeder weiß, wenn das Kabinett erst in die Nähe eines bestimmten parlamentarischen Septembertermins gekommen ist, wird jeglicher Anlaß zur Erarbeitung einer mittelfristigen Finanzplanung ab 1973 entschwunden sein. Ich habe dabei immer betont, es gibt auch Grenzen der Belastbarkeit für einen Finanzminister. Er kann sich nicht unaufhörlich vertrösten lassen. Ich bin jedenfalls nicht bereit, als Finanzminister bis zum Ende des Jahres schweigen zu müssen über das, was ab 1. Januar 1973 jede Bundesregierung erwartet. Ich bin nicht bereit, eine Politik zu unterstützen, die nach außen den Eindruck erweckt, die Regierung lebe nach dem Motto: "Nach uns die Sintflut". Ich bin auch nicht bereit, dann womöglich noch von einem Amtsnachfolger gleicher oder anderer Couleur in einer neuen Regierung als
Hauptschuldner für eine große sogenannte "Erblast" haftbar gemacht zu werden, wie das Herr Kollege Möller 1971 praktiziert hat. Ein Finanzminister, der monatelang stumm bleiben sollte, wie das viele Kollegen wünschen, weil man in solchen Zeiten nicht von Geld redet, ist von mir nicht darzustellen. Die Regierung hat die Pflicht, über den Tellerrand des Wahltermins hinauszublicken und dem Volk rechtzeitig zu sagen, was zu leisten ist und was zu fordern ist. Diese von mir mehrfach empfohlene Strategie ist bisher im Kabinett nicht einmal andiskutiert, geschweige denn akzeptiert. Der Widerwille einiger Kollegen gegen derartige Überlegungen hindert die gleichen Kollegen nicht daran, mit Anträgen, die ab 1973 einnahmemindernd oder ausgabeerhöhend wirksam werden, heute aufzuwarten....
Gerade bei einem Bundeskabinett, das zum erstenmal in der Geschichte der Bundesrepublik von der Sozialdemokratie geführt wird, und zwar bei knappen Mehrheitsverhältnissen, bedurfte es in besonderem Maße des gemeinsamen Handelns, und zwar im Hinblick auf das Ziel: einen überzeugenden Wahlsieg bei der nächsten Bundestagswahl. Das erforderte, daß alle sich in einen gegebenen Rahmen einpassen und auf Kosten des Ganzen gehende Einzelinteressen zurückgestellt würden. In diesem zermürbenden Kampf reich an persönlichen Diffamierungen - stand der zuständige Minister oft allein. Das hat mich nicht gehindert, immer von neuem den Versuch zu machen, zu sachgerechten, überzeugenden Lösungen der anstehenden Probleme zu kommen. Trotz aller mir nachgesagten Empfindlichkeit habe ich mich immer wieder über persönliche Angriffe aus den eigenen Reihen um der Sache willen hinweggesetzt (siehe beispielsweise die Auseinandersetzungen zur Steuerreform im vorigen und in diesem Jahr). Es gibt aber auch für mich Grenzen - diese sind gegeben, wenn ich der auf meinem Amt beruhenden Verantwortung diesem Staat und seinen Bürgern gegenüber nicht mehr gerecht werden kann, weil ich nicht unterstützt bzw. sogar daran gehindert werde. Bei nüchterner und verantwortungsvoller Würdigung des von mir geschilderten Sachverhalts kann ich aus den Gegebenheiten nur die Konsequenz eines Rücktritts ziehen ....
Mit freundlichen Grüßen
(gez.) Schiller
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