Obwohl die Revolution 1848 viele emanzipatorische Hoffnungen erfüllte und einige Juden während der Revolution als Abgeordnete in der Paulskirche eine bedeutsame Rolle in der politischen Öffentlichkeit einnahmen, waren die Ereignisse der Jahre 1848/49 auch häufig von antijüdischen Ressentiments begleitet. Durch die neue Pressefreiheit entstanden zahlreiche neue judenfeindliche Zeitschriften, die den antijüdischen Stimmungen ein Sprachrohr gaben. Es blieb jedoch nicht nur bei sprachlichen Diffamierung der jüdischen Bevölkerung. Örtlich begrenzt sind auch spontane Gewaltakte gegen die Juden überliefert. Häufig wurden die Tumulte durch Gerüchte ausgelöst, die Lebensmittelpreise seien durch jüdische Händler künstlich verteuert worden - was auf den sozioökonomischen Hintergrund und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten im unmittelbaren Vorfeld der Revolution verweist. Juden wurden von vielen von der Wirtschaftskrise bedrohten Bauern, Handwerkern und Tagelöhnern als Personifikation des hereinbrechenden wirtschaftlichen Wandels betrachtet. Viele der Mittel- und Unterschicht sahen sich mit einer existenzbedrohenden Lage konfrontiert, wodurch de Hemmschwelle für Gewalttaten gegen Juden immer weiter sank. Wie diese Ausschreitungen abliefen und wie die Juden reagierten, zeigt beispielhaft ein Bericht aus dem württembergischen Baisingen:
„Mächtige wurden gestürzt und das Gesindel erhob sich und viele jüdische Gemeinden in diesen Ländern wurden vielfach misshandelt. Auch wir, die jüdischen Einwohner des Dorfes Baisingen, kamen in große Not. Es war das Gerücht, dass die christlichen Einwohner benachbarter Dörfer uns überfallen, berauben und misshandeln wollen.
In der Nacht auf den dreizehnten März waren wir ängstlich, ein jeder in seinem Hause, da kamen hiesige Christen und warfen in zehn Häusern von Juden die Scheiben ein. Nachtwächter sahen es mit an und halfen dazu.
(Sieben ledige christliche Burschen aus einem Nachbardorf drohten Gewalt an. Kein ansässiger Christ solidarisierte sich mit den Juden.)
In der Nacht auf den letzten Tag von Pessach, dieses ist auf den 25. April, rotteten sich ungefähr vierzig christliche Einwohner des Ortes zusammen, sie waren teils geheiratet, teils noch ledig und begannen damit, dass sie zuvörderst die von uns bestellten jüdischen und christlichen Wächter aus der Strasse verjagten und dann hingingen und in den meisten Häusern der Juden die Türen einschlugen und die Läden der Fenster erbrachen. Sie waren mit schweren Steinen, großen und kleinen Prügeln, mit Äxten und Beilen bewaffnet. Sie warfen durch die zerschlagenen Fenster in die Wohnungen und riefen: Geld oder Tod! (... )
(Die Ausschreitenden) trafen die Hausfrau, die längst taub geworden, und verwundeten sie gefährlich am Kopfe; sie ist indes wieder geheilt von ihren Wunden. Bei dieser Gelegenheit wurden auch in der nahe stehenden Synagoge Fenster zerschlagen und Steine und Prügel hineingeworfen. (...)
Zu dieser Zeit war es ruhig am Orte. Wir gingen aus unseren Häusern bewaffnet mit Äxten, Hämmern, Beilen und dergleichen und blieben auf der Strasse beisammen, um einem möglichen Überfalle vereint abzuwehren. Noch vor Tag gingen jedoch drei von uns zu dem Schultheissen und verlangten von ihm ein Schreiben an das königliche Oberamtsgericht. Über das, was diese Nacht sich ereignet. Der Schultheiss willfahrte, und so gingen denn zwei dieser Männer, Herr Hirsch Kiefe, Kirchenvorsteher, und Vorsänger und Schullehrer Michael Hirsch mit Tagesanbruch an Ort und Stelle sich zu begeben und für unseren Schutz Sorge zu tragen und Anstalt zu treffen (...)
Wir dürfen nicht unterlassen zu erwähnen, dass die öffentliche Stimme, die laut wurde, ganz zu unseren Gunsten war und dass die christlichen Einwohner dahier von ihren Glaubensgenossen, den katholischen und von den lutherischen Christen in der Gegend sehr getadelt wurden. (...)
Man hatte den Großherzog von Baden zur Flucht genötigt und wollte auch für Württemberg Republik ausrufen; allein die Besseren im Volke ermannten sich, und die Regierungen wurden wieder mächtig, wie es war vor dem März des Jahres 1848.
In diesen Jahren unter der Regierung unseres guten Königs Wilhelm der Erste wurden den Untertanen viele Rechte und Freiheiten von den Regierungen eingeräumt, und die Juden erlangten in vielen deutschen Staaten dieselben Rechte wie die anderen Einwohner.“
Aus: Abraham Gilam, Die historische Bedeutung der Megillat Baisingen, in: Leo Baeck Bulletin 52/1976, S. 88-93; zitiert nach: http://www.gabrielriesser.de/frameset_intro_02.html
Arbeitsaufträge:
1. Zeichnen sie die Ausschreitungen gegen die Juden in Baisingen nach.
2. Wie reagierte die Öffentlichkeit auf die Ausschreitungen?
3. Wie versuchten sich die Juden der Gewalttätigkeiten zu erwehren?
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