Textkommentar:
Karl Marx verfasste die Schrift „Zur Judenfrage“ in der zweiten Hälfte des Jahres 1843. Sie wurde erstmals im Februar 1844 in den gemeinsam von Marx und Arnold Ruge herausgegebenen Deutsch-Französischen Jahrbüchern veröffentlicht. In ihr setzt sich Marx mit zwei Aufsätzen des Junghegelianers und Religionskritikers Bruno Bauer auseinander. „Zur Judenfrage“ entstand in eine Zeit, in der sich Marx nach und nach von Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dem sogenannten Junghegelianismus um Bruno Bauer und Max Stirner abwendete, um unter Einfluss der nationalökonomischen Studien Adam Smiths und David Ricardos seine eigenen philosophisch-ökonomischen Grundsätze zu entwickeln. In verschiedenen Schriften dieser Zeit (Die heilige Familie, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Die deutsche Ideologie) überwindet Marx Hegels idealistische Vorstellung vom Staat als das über allen Partikularinteressen stehende Sittlich-Allgemeine und geht dazu über, statt der Politik vornehmlich den beobachtbaren gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, den Produktionsverhältnissen, sein Interesse zu widmen. Den Staat begreift Marx genauso wie die Religion nur noch als Ausdruck oder Ableitung dieser sozialen Verhältnisse.
Der Junghegelianer Bruno Bauer beschäftigte sich in zwei Aufsätzen aus dem Jahr 1843 mit den Möglichkeiten der jüdischen Emanzipation. Karl Marx setzte sich noch im gleichen Jahr mit Bauers Überlegungen auseinander. Im ersten Teil von "Zur Judenfrage" stimmt er zunächst einigen religionskritischen Aussagen Bauers zu; doch geht Bauer ihm noch nicht weit genug. Seine zentrale Kritik an Bauer ist, dass er die „Judenfrage“ nur als religiös-theologische Frage verstehe und ihre weltlich-materielle Dimension völlig missachte. Nach Marx bestehe in der modernen Organisation von Gemeinwesen ein tiefer Widerspruch zwischen der Sphäre der zwischenmenschlichen Interaktion, der bürgerlicher Gesellschaft mit ihren Bürgerrechten (droits de l’homme), und dem öffentlich-rechtlichen Sphäre des politischen Staates mit seinen Staatsbürgerrechten (droits du citoyen). Letzterer habe sich zwar von seinem Vorgänger, dem christlichen Staat emanzipiert, indem er nun jedem gewisse Rechte, u.a. Religionsfreiheit, gewähre. Allerdings wurde damit die Religion nur ins Private verschoben, die politische Emanzipation vom christlichen zum politischen Staat sei deshalb nicht als generelle menschliche Emanzipation (von der Religion etwa) zu verstehen. Die Judenfrage müsse nach Marx in diesem weltlichen Kontext gesehen und gelöst werden, im Kontext des Verhältnisses von politischer zur allgemein menschlicher Emanzipation. Allgemein menschliche Emanzipation lasse sich nur durch die Überwindung der Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft erreichen.
Auszüge aus "Zur Judenfrage":
"[...]
II.
»Die Fähigkeit der heutigen Juden und Christen, frei zu werden«. Von Bruno Bauer. (»Einundzwanzig Bogen«, pag. 56-71.)
Unter dieser Form behandelt Bauer das Verhältnis der jüdischen und christlichen Religion, wie das Verhältnis derselben zur Kritik. Ihr Verhältnis zur Kritik ist ihr Verhältnis »zur Fähigkeit, frei zu werden«.
Es ergibt sich:
»Der Christ hat nur eine Stufe, nämlich seine Religion zu übersteigen, um die Religion überhaupt aufzugeben«, also frei zu werden, »der Jude dagegen hat nicht nur mit seinem jüdischen Wesen, sondern auch mit der Entwicklung der Vollendung seiner Religion zu brechen, mit einer Entwicklung, die ihm fremd geblieben ist.« (p. 71.)
Bauer verwandelt also hier die Frage von der Judenemanzipation in eine rein religiöse Frage. Der theologische Skrupel, wer eher Aussicht hat, selig zu werden, Jude oder Christ, wiederholt sich in der aufgeklärten Form, wer von beiden ist emanzipationsfähiger? Es fragt sich zwar nicht mehr: Macht Judentum oder Christentum frei? sondern vielmehr umgekehrt: Was macht freier, die Negation des Judentums oder die Negation des Christentums?
[...]
Wir versuchen, die theologische Fassung der Frage zu brechen. Die Frage nach der Emanzipationsfähigkeit des Juden verwandelt sich uns in die Frage, welches besondre gesellschaftliche Element zu überwinden sei, um das Judentum aufzuheben? Denn die Emanzipationsfähigkeit des heutigen Juden ist das Verhältnis des Judentums zur Emanzipation der heutigen Welt. Dies Verhältnis ergibt sich notwendig aus der besondern Stellung des Judentums in der heutigen geknechteten Welt.
Betrachten wir den wirklichen weltlichen Juden, nicht den Sabbatsjuden, wie Bauer es tut, sondern den Alltagsjuden.
Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden,
Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz.
Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.
Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit.
Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzungen des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewußtsein wurde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andrerseits: wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.
Wir erkennen also im Judentun ein allgemeines gegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muß.
Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.
[…]
Es ist dies kein vereinzeltes Faktum. Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind.
»Der fromme und politisch freie Bewohner von Neuengland«, berichtet z.B. Oberst Hamilton, »ist eine Art von Laokoon, der auch nicht die geringste Anstrengung macht, um sich von den Schlangen zu befreien, die ihn zusammenschnüren. Mammon ist ihr Götze, sie beten ihn nicht nur allein mit ihren Lippen, sondern mit allen Kräften ihres Körpers und ihres Gemüts an. Die Erde ist in ihren Augen nichts andres als eine Börse, und sie sind überzeugt, daß sie hienieden keine andere Bestimmung haben, als reicher zu werden denn ihre Nachbarn. Der Schacher hat sich aller ihrer Gedanken bemächtigt, die Abwechslung in den Gegenständen bildet ihre einzige Erholung. Wenn sie reisen, tragen sie, sozusagen, ihren Kram oder ihr Kontor auf dem Rücken mit sich herum und sprechen von nichts als von Zinsen und Gewinn. Wenn sie einen Augenblick ihre Geschäfte aus den Augen verlieren, so geschieht dies bloß um jene von andern zu beschnüffeln.«
[…]
Der Widerspruch, in welchem die praktische politische Macht des Juden zu seinen politischen Rechten steht, ist der Widerspruch der Politik und Geldmacht überhaupt. Während die erste ideal über der zweiten steht, ist sie in der Tat zu ihrem Leibeignen geworden.
Das Judentum hat sich neben dem Christentum gehalten, nicht nur als religiöse Kritik des Christentums, nicht nur als inkorporierter Zweifel an der religiösen Abkunft des Christentums, sondern ebensosehr, weil der praktisch-jüdische Geist, weil das Judentum in der christlichen Gesellschaft selbst sich gehalten und sogar seine höchste Ausbildung erhalten hat. Der Jude, der als ein besonderes Glied in der bürgerlichen Gesellschaft steht, ist nur die besondere Erscheinung von dem Judentum der bürgerlichen Gesellschaft.
Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.
Aus ihren eignen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden.
Welches war an und für sich die Grundlage der jüdischen Religion? Das praktische Bedürfnis, der Egoismus.
Der Monotheismus des Juden ist daher in der Wirklichkeit der Polytheismus der vielen Bedürfnisse, ein Polytheismus, der auch den Abtritt zu einem Gegenstand des göttlichen Gesetzes macht. Das praktische Bedürfnis, der Egoismus ist das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und tritt rein als solches hervor, sobald die bürgerliche Gesellschaft den politischen Staat vollständig aus sich herausgeboren. Der Gott des praktischen Bedürfnisses und Eigennutzes ist das Geld.
Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen - und verwandelt sie in eine Ware. Das Geld ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.
Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel.
[…]
Die chimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns, überhaupt des Geldmenschen.
[…]
Die Veräußerung ist die Praxis der Entäußerung. Wie der Mensch, solange er religiös befangen ist, sein Wesen nur zu vergegenständlichen weiß, indem er es zu einem fremden phantastischen Wesen macht, so kann er sich unter der Herrschaft des egoistischen Bedürfnisses nur praktisch betätigen, nur praktisch Gegenstände erzeugen, indem er seine Produkte, wie seine Tätigkeit, unter die Herrschaft eines fremden Wesens stellt und ihnen die Bedeutung eines fremden Wesens - des Geldes - verleiht.
Der christliche Seligkeitsegoismus schlägt in seiner vollendeten Praxis notwendig um in den Leibesegoismus des Juden, das himmlische Bedürfnis in das irdische, der Subjektivismus in den Eigennutz. Wir erklären die Zähigkeit des Juden nicht aus seiner Religion, sondern vielmehr aus dem menschlichen Grund seiner Religion, dem praktischen Bedürfnis, dem Egoismus.
Weil das reale Wesen des Juden in der bürgerlichen Gesellschaft sich allgemein verwirklicht, verweltlicht hat, darum konnte die bürgerliche Gesellschaft den Juden nicht von der Unwirklichkeit seines religiösen Wesens, welches eben nur die ideale Anschauung des praktischen Bedürfnisses ist, überzeugen. Also nicht nur im Pentateuch oder im Talmud, in der jetzigen Gesellschaft finden wir das Wesen des heutigen Juden, nicht als ein abstraktes, sondern als ein höchst empirisches Wesen, nicht nur als Beschränktheit des Juden, sondern als die jüdische Beschränktheit der Gesellschaft.
Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjektive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz des Menschen aufgehoben ist.
Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.“
Zitiert nach: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_347.htm; siehe auch: Marx, Karl/ Engels, Friedrich: Werke, Bd. 1, Berlin-Ost 1976, S. 347-377, hier S. 371-377 (Auszüge).
Arbeitsaufträge:
1. Der Junghegelianer Bruno Bauer fasst gemäß Marx die Judenfrage als religiös-theologische Frage. Wie positioniert sich Marx dazu? Wie versteht er die Judenfrage?
2. Wie beschreibt Marx die „wirklichen Juden“? Welche Tätigkeiten, Eigenschaften und Bestrebungen weist er ihnen zu?
3. Für was stehen diese Eigenschaften des „wirklichen Juden“?
4. Was ist nach Marx die Judenemanzipation? Was ist dagegen die gesellschaftliche Emanzipation vom Judentum und zu was führt diese?
5. Diskutieren Sie, ob Karl Marx anhand dieses Textes als judenfeindlich bezeichnet werden kann. Achten Sie auf den zeitlichen Kontext.
Sebastian Haus
Anfragen zu Reproduktionen in hoher Auflösung und druckfähige Vorlagen erhalten Sie von der unter Bestand/Sign. genannten Einrichtung.